Wir haben schon oft gelesen, das Stromnetz sei kurz vor dem Zusammenbruch. Und vor allem mit dem Ausbau der Erneuerbaren stünden uns dunkle Zeiten bevor. Doch was ist dran an solchen Horrorszenarien? Wie gut ist das deutsche Stromnetz? Und ist es für die Zukunft gewappnet? Diesen Fragen widmen wir uns im letzten Teil unserer Game of Zones-Serie.
In unserem vorherigen Blogbeitrag der Serie haben wir die Prinzipien der Zusammenarbeit der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) und damit die Funktionsweise des Netzregelverbunds vorgestellt. Dabei haben wir festgehalten, dass es heutzutage längst keine feste Trennung zwischen den Regelzonen mehr gibt. Innerhalb des Netzregelverbunds fließt der Strom grundsätzlich unabhängig von den Grenzen der Regelzonen und auch Regelenergieabrufe werden bereits zonenübergreifend koordiniert. Dennoch können die ÜNB ihre Regelzonen im Notfall noch als Inselnetze betreiben – ein „Plan B“, der die Netzsicherheit erhöht.
Aber es gibt noch weitere Maßnahmen, die die Netzstabilität langfristig steigern können. Da fällt uns zunächst der Netzausbau ein: Wenn Leitungen oder Kuppelstellen an Orten ausgebaut werden, die häufig überlastet sind, entlastet das natürlich das Netz (wenn die Produktionskapazitäten und Stromentnahmen ansonsten gleich bleiben). Wo sich der Ausbau solcher Leitungen und Kuppelstellen lohnt, ist allerdings eine so komplexe Frage, dass wir sie in diesem Blogbeitrag nicht beantworten können. Dafür lassen die Bundesnetzagentur (BNetzA) und andere Organisationen der Energiewirtschaft regelmäßig Studien anfertigen, in denen im Detail alle Kapazitäten und Bedarfe kalkuliert und prognostiziert werden. Dort kommen zusätzlich noch Ringflüsse („Loop Flows“) ins Spiel, also der Fall, dass der Strom durch die geplante Trasse auf Grund eines Engpasses nicht fließen kann und daher eine andere Route nimmt, woraufhin andere Trassenabschnitte stärker belastet werden. Für eine solche Analyse muss man also das gesamte System betrachten (inklusive unserer Nachbarländer, zu denen Kuppelstellen bestehen), um realistische Aussagen über Netzausbaupläne machen zu können.
Aber wenn wir auch nicht den ganz großen Masterplan vorlegen können, möchten wir trotzdem versuchen ein paar wichtige Aspekte besser zu klären, die direkt damit verbunden sind. Dazu möchten wir die übergeordnete Frage beantworten: Wie gut ist eigentlich das deutsche Stromnetz?
Fangen wir also an.
Eine Studie der Bundesnetzagentur[1] aus dem Jahr 2011 kommt zu dem Ergebnis, dass kritische Netzbelastungen zwar auf vielen Übertragungsleitungen auftauchen – und die betroffenen ÜNB demnach Gegenmaßnahmen einleiten mussten. Allerdings traten diese Überbelastungen in fast allen Leitungen in weniger als 2% der Jahresstunden auf. Lediglich auf einer Leitung zwischen Remptendorf (Thüringen, 50Hertz) und Redwitz (Bayern, TenneT) kamen solche Engpässe in ungefähr 10% der Jahresstunden auf, was eine genauere Betrachtung rechtfertigt.
Genau in diesem Bereich ist heute bereits eine Leitung zwischen Bad Lauchstädt (Thüringen, 50Hertz) über Vieselbach (Thüringen, 50Hertz) nach Redwitz (Bayern, TenneT) in Bau, die Stromüberkapazitäten teilweise umleiten und damit die ursprüngliche Leitung entlasten kann. [Nachtrag am 19.11.15: 50 Hertz hat angekündigt, dass dieser Teil der sogenannten "Südwest-Kuppelleitung" bzw. "Thüringer Strombrücke" bereits vor dem Winter 2015/16 in Betrieb genommen werden soll.] Eine weitere Leitung von Bad Lauchstädt südlich nach Bayern ist derzeit noch im Planungsstadium, würde aber ebenfalls Entlastung bringen. Eine Veranschaulichung hierzu stellt 50Hertz auf seiner Internetseite zur Verfügung. Insgesamt wurden bis heute über 400 km der geplanten 1.887 Trassenkilometer fertiggestellt, die mit dem Gesetz zum Ausbau von Energieleitungen (EnLAG) von 2009 beschlossen wurden.
Aber auch abgesehen vom langfristigen Ausbau der Strominfrastruktur können die ÜNB operationale Maßnahmen einleiten, um Engpässen entgegenzuwirken. Das ist in einem ersten Schritt natürlich die Regelenergie, für die die ÜNB eine gemeinsame Handelsplattform eingerichtet haben. Über die Regelenergie hinaus, die marktwirtschaftlich ausgeschrieben wird, können die ÜNB aber auch direkt in den Strommarkt eingreifen, und zwar durch:
Der deutsche Strommarkt ist der größte in Europa. Insgesamt werden hierzulande jedes Jahr ungefähr 600 TWh Strom verbraucht. Auch am EPEX Spotmarkt, dem kurzfristigen Börsenhandel, werden die größten Strommengen in Deutschland gehandelt: Im Jahr 2014 waren das rund 250 TWh.
Und an dieser Stelle möchten wir auf die stromnetzstabilisierende Wirkung des Intraday-Handels an der EPEX Spot aufmerksam machen: Dadurch dass der kurzfristige Handel an der Strombörse in den letzten Jahren stetig ausgeweitet wurde, ist es mittlerweile möglich bis 30 Minuten vor der Lieferviertelstunde Ein- und Ausspeiseprognosen zu korrigieren. Das bedeutet, dass Strommarktakteure laufend Strom zu- und verkaufen können, während ihre Einspeiseprognosen, die gerade bei Wind und Solar auf Wetterprognosen basieren, immer präziser werden. Ein Beispiel: Ein Stromhändler rechnet für Mittwoch mit einer Solar- und Windstromeinspeisung von 100 MWh, die er bereits an der Strombörse verkauft hat. Nun ist der Mittwoch da, seine Einspeiseprognosen sind schon wesentlich genauer und es sieht nach einer tatsächlichen Einspeisung von 80 MWh für diesen Tag aus ─ er hat also 20 MWh verkauft, die er nun gar nicht liefern kann. Diese Fehlmenge kann er sich nun über den Tag verteilt im Intraday-Handel zukaufen und hält damit seinen Bilanzkreis im Gleichgewicht. Gleichzeitig müssen diese fehlprognostizierten 20 MWh nicht über den Regelenergiemarkt ausgeglichen werden und es fallen keine Ausgleichsenergiekosten an. So sorgt auch das kluge Bilanzkreismanagement der Strommarktakteure für Stabilität im Stromnetz, noch bevor Eingriffe der ÜNB überhaupt nötig werden. Im Jahr 2014 wurden so am kurzfristigen Strommarkt bereits 31 TWh Strom gehandelt ─ der Großteil davon im Marktgebiet Deutschland.
Im Bezug dazu nehmen die Eingriffe der ÜNB zur Stabilisierung der Stromnetze nur einen Bruchteil der insgesamt gehandelten Strommengen ein: In 2013 wurden 4,39 TWh über den Redispatch umgelegt (S. 17), also etwas weniger als 1% des Bruttostromverbrauchs. Allerdings wurden insgesamt in 7.965 Stunden des Jahres Redispatch-Maßnahmen durchgeführt, was gut 91% der gesamten Jahresstunden entspricht. Trotz der relativ geringen Strommenge, die die ÜNB über Redispatch umlegen, kommen diese Eingriffe also sehr häufig, beinah jeden Tag, vor – und die Eingriffe nehmen zu, was auch dem steigenden Anteil Erneuerbarer zugeschrieben wird. [Nachtrag am 28.09.15: Energieblogger-Kollege Thorsten Zoerner hat hierzu in seinem Blog angemerkt, dass anstelle der Erneuerbaren insbesondere Braunkohlekraftwerke in der Lausitz für einen großen Teil der Redispatch-Maßnahmen verantwortlich sind.] Diese Zahlen allein sind jedoch kein Beleg dafür, dass das deutsche Stromnetz durch die Energiewende vollends überlastet ist. Ganz im Gegenteil: Sie zeigen, dass den ÜNB wirkungsvolle Mittel zur Verfügung stehen, um die Netze zu stabilisieren, noch bevor Engpässe überhaupt entstehen.
Auch das Einspeisemanagement der Verteilnetzbetreiber (VNB) machte mit seinen 0,555 TWh im Jahr 2013 (S. 17) nur etwa 0,09% des deutschen Bruttostromverbrauchs aus. Mit dem Einspeisemanagement regeln die VNB Erneuerbare Energie-Anlagen sowie KWK- und Grubengasanlagen ab, wenn einzelne Netzabschnitte überlastet sind und ein Netzzusammenbruch droht. Die abgerufenen abschaltbaren Lasten hatten sogar nur einen Umfang von 494 MWh im Jahr 2014.
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Auch die Stromunterbrechungszeiten sind in Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich bei Weitem die geringsten. Im Jahr 2014 waren das durchschnittlich 12,28 Minuten[2] Stromausfall für jeden Endverbraucher – eine Zahl, die seit 2006 zunächst stetig gefallen ist, von 2009 bis 2013 ungefähr bei 15 Minuten stagnierte und nun noch einmal kräftig gesunken ist. Stromausfälle sind in den meisten Fällen außerdem nicht auf die Übertragungsnetze zurückzuführen, sondern auf die Verteilnetze, bei denen häufig zum Beispiel durch lokale Bauarbeiten oder umgestürzte Bäume versehentlich Leitungen beschädigt werden.
Wo also ist das Problem? Wir haben ja bereits festgestellt, dass das Thema an sich sehr komplex ist und man daher keine einfachen Antworten geben kann. Allerdings tut sich nach einer ersten Betrachtung der öffentlich zugänglichen Informationen kein Problem besonders hervor, dass die ÜNB mit ihrer jetzigen Infrastruktur und Organisation nicht im Griff haben. Auch für die Zukunft scheint der Netzausbauplan gut vorzusorgen. Wirklich besorgniserregende Engpässe konnten wir bei unserer Recherche nicht finden.
Lässt sich aus diesen Schnappschüssen folgern, dass die Diskussionen um eine Überlastung der deutschen Stromnetze eher heiße Luft sind und wir Deutschen damit nur unserer Nörgellust frönen? Obwohl wir den zuverlässigsten Strommarkt der Welt haben, scheint die Angst vor dem Blackout bei uns ganz besonders groß zu sein. Man liest davon regelmäßig in beinah allen Zeitungen und das seit … ja eigentlich seit es ein etabliertes Stromnetz gibt. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die ÜNB bisher scheinbar ihre Arbeit äußerst gut gemacht haben – die Zahlen sprechen zumindest dafür.
Es wäre gleichzeitig aber töricht zu ignorieren, dass mittlerweile eine Energiewende im Gang ist, innerhalb der bis 2050 die deutsche Stromerzeugung zu 80% aus Erneuerbaren Energiequellen stammen soll. Gerade sind wir schon bei ungefähr 28 % und die Erneuerbaren werden insgesamt immer günstiger und effizienter. Die Zahlen sind schon heute so real, dass mit der Zeit auch die eisernsten Kritiker einsehen müssen, dass die Energiewende nicht mehr aufzuhalten ist.
Ein Großteil der zusätzlich installierten Leistung an Erneuerbaren wird natürlich über die gesamte Republik gestreut sein. PV-Anlagen auf Dächern und Freiflächen, Windkraftanlagen auf und neben Hügeln, Biogasanlagen in der Nähe von Bauernhöfen: All das ist schon heute ein gewohntes Bild. Aber da sind auch noch die vieldiskutierten Windparks nahe oder deutlich ferner der deutschen Küsten. Bis 2020 plant die Bundesregierung eine Leistung von 6,5 GW an Offshore-Windenergie ans Netz anzuschließen. Bis 2030 sollen es 15 GW sein. Und die werden natürlich nicht nur im Norden verbraucht, sondern je nach Verbraucherlast über das gesamte Land verteilt.
Die Herausforderungen, die sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aus der Energiewende ergeben, sind enorm. Und sie werden auf uns zukommen, das ist keine Frage. Und bei allen Themen, die wir in dieser Blogserie über das Stromnetz und die Regelzonen angesprochen haben, haben wir die europäische Integration der Stromnetze völlig außer Acht gelassen. Diese wird ebenfalls bereits mit Hochdruck vorangetrieben.
Es bleibt also viel zu tun für die Zukunft. Aber immerhin bauen wir das Stromnetz der Zukunft auf einem Netz auf, das sich bis heute durch größte Stabilität und Zuverlässigkeit auszeichnet. Mit einer Fülle von Akteuren im Strommarkt, den ÜNB, VNB, Stromhändlern, Anlagenbetreibern und vielen mehr, die bereits heute sehr eng und gut zusammenarbeiten. Unser Fazit ist daher: Viel zu tun gibt es sicher, aber keinen Grund zur Panik.
[1] Durchgeführt durch die Beratungsfirmen frontier economics und consentec.
[2] Wert des deutschen SAIDI-Index. In diesen Wert fließen nur unplanmäßige Unterbrechungen der Stromversorgung ein, die länger als drei Minuten andauern. Geplante oder durch Naturkatastrophen etc. verursachte Unterbrechungen werden nicht berücksichtigt. Weitere Informationen finden Sie zum Beispiel in unserem Wissensbereich.
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