Mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien kommt es naturgemäß zu höheren Schwankungen im Stromnetz, denn der Wind weht nicht immer und die Sonne versteckt sich leider häufig hinter Wolken. Auch Stromverbraucher verursachen mit unsteten Lastprofilen ständig Schwankungen im Stromnetz. Trotzdem fällt die Stromversorgung in Deutschland fast nie aus. Wie kann das sein? Zum einen sind Stromproduzenten und Stromversorger verpflichtet, möglichst genaue Prognosen hinsichtlich der Einspeisung und Entnahme abzugeben, um die Lastflüsse im bundesdeutschen Stromnetz optimal zu planen und die Normalfrequenz im Stromnetz bei 50 Hertz zu halten.
Was aber, wenn plötzlich der Stromverbrauch überraschend anzieht und jede noch so korrekte Prognose hinfällig werden lässt? Oder ein plötzlich einsetzender Wetterumschwung die prognostizierte Produktion aus Wind und Solar stark beeinflusst? Oder ein konventionelles Kraftwerk ausfällt? In diesem Fall greift die Regelenergie ein, um einen Zusammenbruch des Stromnetzes abzuwenden. Diese Reserve gleicht, wie in der folgenden Grafik dargestellt, die Schwankungen im Stromnetz innerhalb von Sekunden („Primärreserve (PRL)/ Frequency Containment Reserves (FCR)"), fünf Minuten („Sekundärreserve (SRL)/ automatic Frequency Restoration Reserves (aFRR)") oder Viertelstunden („Minutenreserve (MRL)/ manual Frequency Restoration Reserves (mFRR)") aus. Nicht nur Stromproduzenten, sondern auch Stromverbraucher und Stromspeicher stellen dabei Regelenergie zur Verfügung.
Interessant dabei ist, dass es nicht nur zu einer plötzlichen Nachfrage nach mehr Strom kommen kann, sondern auch zu einem Überangebot an Strom. Nun ist nicht eine zusätzliche Einspeisung von Strom gefragt, sondern eine Speicherung oder eine möglichst schnell einsetzende Herunterregelung von Kraftwerken oder eine Steigerung des Stromverbrauchs, beispielsweise durch gewerbliche oder industrielle Abnehmer. Auch diese Problematik fällt unter den Begriff „Regelenergie". Beim Ausgleich von plötzlich erhöhter Nachfrage bei nicht ausreichendem Angebot spricht man von „positiver Regelenergie" – mehr Strom muss schnell in die Netze eingespeist werden oder weniger Strom verbraucht werden. Der Ausgleich von erhöhtem Angebot und plötzlich schwacher Nachfrage wird hingegen „negative Regelenergie" genannt - die Stromproduktion muss schnell verringert oder der Stromverbrauch rasch erhöht werden. Die Bereitstellung negativer Regelenergie darf nicht mit der Zwangsabregelung von Stromerzeugern im Einspeisemanagement verwechselt werden.
Die nachfolgende Tabelle zeigt die verschiedenen Regelenergiearten und deren Merkmale:
Regelenergieart | PRL/ FCR | SRL/ aFRR | MRL/ mFRR |
---|---|---|---|
Bereitstellung durch | ENTSO-E | ÜNB | ÜNB |
Aktivierung | Frequenzgesteuert: Eigenständige Messung/Eingriff vor Ort durch Anbieter der PRL | Durch regelzonen-verantwortlichen ÜNB – löst automatisch PRL ab | Durch regelzonen-verantwortlichen ÜNB – manuelle Anforderung durch ÜNB |
Volle Leistung | Innerhalb von 30 Sekunden | Innerhalb von 5 Minuten | Innerhalb von 15 Minuten |
abzudeckender Zeitraum nach Störungsfall | 0 bis 15 Minuten | ab 30 Sekunden bis 15 Minuten | ab 15 Minuten bis 60 Minuten |
Vergütung | Leistungspreis | Leistungs- und Arbeitspreis | Leistungs- und Arbeitspreis |
Mindestangebots-größe | Ab +/- 1 MW (symmetrisch) | 5 MW positiv oder negativ* | 5 MW positiv oder negativ* |
Tägliche Produkte | Positiv und negativ: 6 Zeitscheiben über 4 Stunden | Positiv und negativ: 6 Zeitscheiben über 4 Stunden | Positiv und negativ: 6 Zeitscheiben über 4 Stunden |
*Eine Angebotsgröße von 1 MW, 2 MW, 3 MW oder 4 MW unter der Maßgabe zulässig, dass ein Anbieter von Minutenreserve nur ein einziges Angebot je Produktzeitscheibe der positiven bzw. negativen MRL in der jeweiligen Regelzone abgibt. |
Unsere Analyse der aktuellsten Spotmarkt- und Regelenergiepreise sowie der Brennstoff-, CO2- und Terminmarktpreise macht gerade eine kurze Pause.
Die Liberalisierung der Strommärkte erfasste auch den Bereich der Regelleistungsbeschaffung und seit 2001 schreiben die vier Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB), die für die Netzfrequenzhaltung und die Lieferung der Regelenergie zuständig sind, die benötigte Regelleistung am Regelenergiemarkt öffentlich über eine Internetplattform aus. Für das Ziel von harmonisierten europäischen Regelenergiemärkten gibt es neben dem Regelleistungsmarkt seit November 2020 zudem den Regelarbeitsmarkt. Hier werden unabhängig vom Regelleistungsmarkt die erforderlichen Mengen an Regelarbeit ausgeschrieben und bezuschlagt. An der Arbeitspreisauktion können nun auch Parteien mit sogenannten free bids teilnehmen, die an der Leistungspreisauktion noch kein Gebot abgegeben haben. Stehen also kurzfristige Flexibilitäten bereit, können diese über die free bids bis zur Schließung der Regelarbeitsmarktauktion abgegeben oder angepasst werden.
Seit 2010 arbeiten die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber im Rahmen des Netzregelverbunds darüber hinaus bei der Dimensionierung und der Aktivierung von Regelenergie zusammen, etwa um zu verhindern, dass in einer Regelzone positive Regelleistung und in einer benachbarten Regelzone negative Regelleistung aktiviert wird. Angrenzende Nachbarstaaten sind ebenfalls Teil des Netzregelverbunds, um ein möglichst koordiniertes Vorgehen bei der Aktivierung von Reserven zur Netzfrequenzstabilisierung zu gewährleisten.
Um alle Schwankungen im deutschen Stromnetz sicher ausgleichen zu können, berechnen die Übertragungsnetzbetreiber turnusmäßig die benötigten Reserven, die sie anschließend über transparente Ausschreibungen am Regelenergiemarkt von den präqualifizierten („zugelassenen") Anbietern einkaufen. In den letzten Jahren schwankten die ausgeschriebenen Volumina zwischen rund 3000 und 4500 Megawatt - je für positive wie negative Regelleistung (Minutenreserve und Sekundärreserve).
Die Ausschreibung von Sekundärreserve und Minutenreserve erfolgt kalendertäglich, die Ausschreibung von Primärreserve im Zuge der Electricity Balancing Guideline der EU seit 1. Juli 2020 alle vier Stunden. Die Aufteilung der Zeitscheiben für die Regelenergieauktionen von Sekundär- und Minutenreserve ist am Regelarbeits- und Regelleistungsmarkt identisch. Bei allen Regelenergieprodukten (PRL, SRL, MRL) kommt etwa seit dem Jahr 2011 den Betreibern von Kleinanlagen und flexiblen Stromverbrauchern, die in Virtuellen Kraftwerken aggregiert sind, eine größere Bedeutung zu. Momentan greifen die Übertragungsnetzbetreiber in der Minutenreserve auf 27 zugelassene Lieferanten von Regelenergie zurück, in der Sekundärreserve auf 30 und in der Primärreserve auf 29 (Stand: 01.02.2024, Quelle: Anbieterliste).
Allein für ihre Bereitschaft, im Notfall einzuspringen, bekommen die Teilnehmer am Regelleistungsmarkt des Regelenergiemarkts eine Vergütung („Bereitschaftsvergütung") - den sogenannten Leistungspreis. Im Regelarbeitsmarkt werden die Akteure, deren Anlagen für die tatsächliche Erbringung von Regelenergie für die Sekundär- und Minutenreserve abgerufen werden, mit dem Arbeitspreis entlohnt. Bei der PRL entfällt der Arbeitspreis, da das Verhältnis zwischen erbrachter positiver und negativer Leistung sich im Mittel ausgleicht und somit über den Ausschreibungszeitraum genau so viel elektrische Leistung ins Netz eingespeist, wie zusätzlich bezogen wurde. Sowohl Leistungspreise als auch Arbeitspreise sind Gebotspreise und unterliegen heftigen Marktschwankungen bei den stattfindenden Regelenergieauktionen. Sie sind aber im Allgemeinen vorteilhaft für die Produzenten, da sie über dem Preis für Normalstrom an der regulären Energiebörse liegen.
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Die Übertragungsnetzbetreiber bezuschlagen in der Leistungspreisauktion alle abgegebenen Gebote bis zum Erreichen der ausgeschriebenen Menge an vorzuhaltender Regelleistung. Die Bezuschlagung der Leistungspreise erfolgt zuerst für die günstigsten Gebote. So ist gewährleistet, dass die Kosten für die Vorhaltung von Regelenergiekapazitäten so niedrig wie möglich sind. Alle bezuschlagten Anbieter verpflichten sich nun, die angebotene Regelleistung bis zur nächsten Auktion für einen Abruf durch die Übertragungsnetzbetreiber bereit zu halten. Sie erhalten hierfür den von ihnen gebotenen Preis pro MW („pay as bid").
Seit Einführung des Regelarbeitsmarktes für SRL und MRL erfolgen die Auktionen für die Erbringung von Regelarbeit unabhängig von den abgegebenen Regelleistungsangeboten. Die Teilnahme an der Arbeitspreisauktion ist auch dann möglich, wenn kein Zuschlag des Leistungspreises in der Leistungspreisauktion zustande kommt. Die Merit Order entscheidet hierbei weiterhin über die Bezuschlagung der Gebote. Die Aktivierung von Regelenergie durch die Leitstellen der Übertragungsnetzbetreiber („Abrufe") erfolgt somit ebenfalls kostenoptimiert, da zuerst die Einheiten der günstigsten Anbieter abgerufen werden. Der Arbeitspreis wird nur gezahlt, wenn ein Abruf erfolgt. Genau wie beim Leistungspreis wird auch hier der tatsächlich gebotene Preis des einzelnen Anbieters gezahlt („pay as bid").
Weitere Informationen zur Bezuschlagung der Arbeits- und Leistungspreise finden Sie auch in unserem Blogartikel zur Preisbildung auf dem Regelenergiemarkt...
Jahr | positive SRL* | negative SRL* | positive MRL* | negative MRL* | |
---|---|---|---|---|---|
2016 | 1400 | 700 | 174 | 54 | |
2017 | 1200 | 1100 | 135 | 73 | |
2018 | 1300 | 1100 | 123 | 63 | |
2019 | 1200 | 1200 | 186 | 102 | |
2020 | 800 | 1000 | 55 | 18 | |
2021 | 900 | 800 | |||
*eingesetzte Energiemenge in GWh |
Die Kosten der Regelenergie werden sowohl über die Netznutzungsentgelte als auch über den Ausgleichsenergiemechanismus umgelegt. Dabei zahlen Stromverbraucher über die Netznutzungsentgelte die Vorhaltung der Regelkapazität (den Leistungspreis), da sie durch diese eine ständige unterbrechungsfreie Stromversorgung erhalten. Die von ihren Einspeise- und Entnahmeprognosen abweichenden Bilanzkreise tragen hingegen über den Ausgleichsenergiemechanismus die Kosten der tatsächlichen Abrufe von Regelenergie (den Arbeitspreis). Über die exakte Funktionsweise der Umlage der Arbeitspreiskosten können Sie sich in unserem separaten Artikel zum Ausgleichsenergiemechanismus informieren.
Während die Kosten für die Vorhaltung der Regelenergie regelmäßig von der BNetzA veröffentlich werden, ist es gar nicht so einfach die Kosten der Abrufe der Regelenergie, also die Kosten der Regelarbeit, zu ermitteln. Denn die Größen variieren ständig und internationale Regelflüsse müssen mit einbezogen werden und machen die Berechnung schwieriger. Die Gesamtkosten der Regelenergie (Kosten der ausgeschriebenen und tatsächlich abgerufenen Mengen der Regelleistung) werden, laut Aussagen des BMWi, von der BNetzA nicht erfasst und liegen der Bundesregierung nicht vor.
Wir können die Kosten der abgerufenen Menge der SRL und MRL demnach nur näherungsweise berechnen, indem wir den Regelarbeitsenergiepreis (reBAP) pro Viertelstunden mit dem NRV-Saldo pro Viertelstunde multiplizieren.
Die Zahlen sind Näherungen an den tatsächlichen Wert und dürfen nur als Tendenz verstanden werden. Ungenauigkeiten in dieser Berechnungsmethode ergeben sich beispielsweise daraus, dass der IGCC (Internationaler Netzregelverbund), der Austausch von Regelenergie zwischen den Ländern, in den Wert einfließt.
Jahr | Kosten der Regelenergieabrufe in Mio. Euro* | ||||
---|---|---|---|---|---|
2014 | 187,80 | ||||
2015 | 206,24 | ||||
2016 | 144,45 | ||||
2017 | 291,91 | ||||
2018 | 174,43 | ||||
2019 | 155,4 | ||||
2020 | 124,88 | ||||
2021 | 299,99 | ||||
*Näherung aus NRV-Saldo und reBAP |
Die sogenannte „Stundenreserve" oder „Reserve durch den BKV" ist übrigens nicht Teil des Begriffsfeldes Regelenergie, da die Stundenreserve, die nach maximal 60 Minuten die Minutenreserve ablöst, nicht über den Regelenergiemarkt ausgeschrieben wird. Sollte eine Netzfrequenzschwankung nach 60 Minuten nicht durch die Primär-, Sekundär- und Minutenreserve ausgeglichen worden sein, ist der Verursacher der Netzfrequenzschwankung selbst – und nicht mehr der Übertragungsnetzbetreiber – dafür verantwortlich, das Gleichgewicht im Übertragungsnetz wiederherzustellen. Dies kann der Verursacher bewerkstelligen, indem er etwa eigene Kraftwerke abseits des Regelenergiemarkts hoch- oder herunterfährt, Fehlmengen über den Intraday-Handel an der Spotbörse oder aber über außerbörslichen Handel („OTC – Over the counter") zu- oder verkauft. Der Auslöser für die Stundenreserve ist häufig der Ausfall eines kompletten Kraftwerksblocks, etwa in einem Kohlekraftwerk.
Hinweis: Next Kraftwerke übernimmt keine Gewähr für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität der Angaben. Der vorliegende Beitrag dient lediglich der Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung.