Wie das Mischpreisverfahren aus der Versorgungssicherheit des Stromnetzes eine Spekulationsmasse macht: Am 6., 12. und 25. Juni 2019 ist es in Deutschland zu Marktverwerfungen mit teils heftigen Auswirkungen auf das Stromnetz gekommen.
Wenn die letzte Reserve schwindet, wird es meist ungemütlich: Genau diese Erfahrung machten an den zuvor genannten Junitagen die in Stromnot geratenen deutschen Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB), als sie eine Unterversorgung des Stromnetzes mit Hilfe von Regelenergie ausgleichen wollten: Den 3.000 Megawatt an positiver Regelleistung, die der Regelenergiemarkt für solche Fälle vorhält, stand etwa die doppelte Menge an Bedarf gegenüber, der selbstverständlich unverzüglich ausgeglichen werden musste.
Die erste und wirklich unangreifbare Erklärung ist: Niemand weiß es. Die Bundesnetzagentur (BNetzA) und die ÜNB haben erklärt, in den nächsten Wochen die Ursache ergründen zu wollen. Zur Diskussion hingegen bieten sich mehrere Erklärungen an: Es war, speziell in der letzten Juniwoche, in fast ganz Deutschland sehr heiß: Der Mehrbedarf an Strom durch Klimaanlagen und die Leistungsreduzierungen von thermischen Kraftwerken aufgrund von Kühlwassererwärmung bei Hitzewellen sind wiederkehrende Faktoren, die wir auch im Sommer 2018 beobachten konnten.
Die dritte Erklärung ist systemischer Natur und liegt in den Eigenheiten und strukturellen Webfehlern des Mischpreisverfahrens am Regelenergiemarkt begründet – dies versuchen wir in diesem Artikel unter dem Abschnitt „Die Bedrohung der Versorgungssicherheit“ zu klären.
Die ÜNB drehten daher auf der Suche nach zusätzlichem Strom jeden Stein um: Sie kauften Strom am Intradaymarkt zu, setzten die Abschaltverordnung (AbLaV) für Stromgroßverbraucher in Kraft und forderten Stromlieferungen aus dem europäischen Ausland an. Besonnen und souverän wendeten die Übertragungsnetzbetreiber so schlimmere Folgen ab, aber der Strommangel war durchaus ernst und fand ein für das Nischenthema Regelenergie erstaunliches Medienecho, beispielsweise bei ZDF oder auch bei Spiegel Online: Begriffe wie „Blackout-Gefahr“, „Strommangel“, „chaotische Zustände im Stromnetz“ und vieles mehr beherrschten die Schlagzeilen.
Dem erhöhten Bedarf folgend setzen die Übertragungsnetzbetreiber die Ausschreibungsmenge in der positiven Minutenreserve auf das doppelte Volumen herauf, seitdem werden etwa 2.000 MW positive MRL ausgeschrieben. Dies zog jedoch einen anderen, unerwünschten Effekt nach sich – das Auftreten einer erneuten, utopisch anmutenden Preisspitze am Regelenergiemarkt.
Die in Rede stehende Preisspitze von 37.856 Euro für ein Megawatt positiver Minutenreserveleistung trat am 29. Juni 2019 im Block von 12 bis 16 Uhr auf – zum Vergleich: In der vorherigen Zeitscheibe von 8 Uhr bis 12 Uhr lag der Grenzpreis bei nur 152,01 Euro.
Ein Marktakteur brachte nun 200 MW auf den Markt, bekam den Zuschlag für 96 MW und verdiente nach vorsichtiger Schätzung über 3,5 Millionen Euro. Der hohe Preis kam sowohl durch den gesteigerten Bedarf als auch durch die Gebotsstrategie des Marktakteurs zustande: Er bot seine Regelleistung zu ultrahohen Preisen an, als die Nachfrage das Angebot überstieg – der ÜNB als Abnehmer konnte jedoch getrieben von der Netzsituation nicht anders vorgehen, als dieses überteuerte Angebot anzunehmen.
Der Vorgang im Detail: In der untenstehenden Grafik ist der Ablauf des fraglichen Gebotsvorgangs dokumentiert. Dargestellt sind die Regeleistungsmenge auf der X-Achse und der Preis pro MW auf der Y-Achse. Das fragliche Gebot wurde bei einem Preis von 37.856 Euro zuletzt bezuschlagt – an dieser Stelle steht die schwarze Linie im Diagramm, die auch das Volumen der ausgeschriebenen Menge wiedergibt.
Es befand sich hingegen noch deutlich mehr Regelleistung in Reserve – dies zeigt sich in dem immer weiteren Anstieg des Gebotspreises und der Gebotsmenge selbst nach dem erfolgten Zuschlag. Wäre die Ausschreibungsmenge der positiven MRL durch die ÜNB Ende Juni um zusätzliche 1.000 MW erhöht worden, hätte der Anbieter nahezu 100.000 Euro für die letzten Megawatt einstreichen können – die Menge war ja offensichtlich vorhanden und wurde geboten.
Genau diese dominierende Marktstellung weniger Akteure aufgrund ihres großen Reserveportfolios ist ein weiteres Problem für das Funktionieren der Marktmechanismen, den Stromkunden, die Erneuerbaren Energien und alle kleineren Teilnehmer des Regelenergiemarktes: Die schiere Marktmacht, welche die Möglichkeit der Bereitstellung einer solchen Regelleistungsmenge verleiht, führt zu den beschriebenen Marktverzerrungen und Preisexzessen. Wer solche Mengen an Reserveleistung mal eben in Reserve hat, mag sich jeder selbst denken.
Um den folgenden Abschnitt sinnvoll einzuleiten, müssen wir ein wenig Begriffsklärung betreiben: Die abgerufene Regelenergie ist durch das Mischpreisverfahren verbilligt worden, die bereitgestellte Regelleistung hingegen verteuert. Das Mischpreisverfahren hat vor allem die Leistungspreise für die Bereitstellung von Regelleistung erhöht, gesunken sind die Arbeitspreise, die nur bei einem Abruf von Regelenergie gezahlt werden.
Das Zusammenspiel von teuren Leistungspreisen und billigen Arbeitspreisen sorgt, neben den noch zu erläuternden Effekten für die Versorgungssicherheit, für eine deutliche Mehrbelastung aller Netznutzer, allen voran der Stromendkunden: Denn die Kosten für die Vorhaltung von Regelleistung, also die Leistungspreise, werden aus den auf alle Netznutzer umgelegten Netzentgelten bezahlt. Es kommt so zu einer Mehrbelastung aller Stromnetznutzer, auch der Endkunden, durch die Leistungspreissteigerungen im Mischpreisverfahren – übrigens zahlen Endkunden auch die oben erläuterten Mondpreise vom Samstag, 29. Juni 2019.
Auch die Versorgungssicherheit gerät durch die Zusammenwirkung von hohen Leistungs- und niedrigen Arbeitspreisen unter Druck. Durch die mit dem Mischpreisverfahren günstiger gewordene Regelenergie ist ein Ausgleich aus der Reserve mitunter billiger als am Intradaymarkt oder durch eigene Prognoseverbesserungen. Mit anderen Worten: Es gibt für Bilanzkreisverantwortliche weniger Anreize, weiter in Prognoseverbesserungen zu investieren, um den eigenen Bilanzkreis ausgeglichen zu halten.
All dies gemeinsam überfordert den auf Feinkorrekturen des Stromnetzgleichgewichts ausgelegten Regelenergiemarkt: Durch die eigentlich unnötigen Abrufe, die aufgrund der günstigen Arbeitspreise deutlich umfangreicher ausfallen, ist die Reserve schnell aufgezehrt und der Strommangel da – wir erinnern uns: am 6., 12. und 25. Juni 2019 betrug der Bedarf an Regelenergie im Maximum bis zu 6.000 Megawatt bei einer vorgehaltenen Reserve von nur 3.000 Megawatt positiver MRL. Seit der Einführung des Mischpreisverfahrens trat die Situation einer ungewöhnlich hohen Nachfrage auf dem Regelenergiemarkt bereits mehrfach auf – das Netz war immer öfter am Limit.
Durch solche letztlich vermeidbaren Knappheiten entstehen dann auch die Möglichkeiten des Abschöpfens von Preisspitzen durch dominierende, pivotale Großakteure auf dem Regelenergiemarkt: Durch das gezielte strategische Bieten von Kapazität kann so schlussendlich mit 200 MW in der Leistungspreisauktion ein Millionenbetrag verdient werden, wo sonst maximal einige tausend Euro erzielbar wären.
Die Entwicklungen auf dem nach dem Mischpreisverfahren arbeitenden Regelenergiemarkt kamen weder für uns noch für andere Marktbeteiligte überraschend. Anstatt ein ausgeglichenes, faires System für alle Marktbeteiligten zu fördern, wurde ein funktionierendes System mit der Einführung des Mischpreisverfahrens durch die Bundesnetzagentur strukturell beschädigt – mit allen volkswirtschaftlichen Konsequenzen.
Denn während im zweiten Quartal 2018, vor der Einführung des Mischpreisverfahrens, die Vorhaltungskosten für die Stromkunden noch lediglich 7,5 Millionen Euro betrugen, haben sich diese im zweiten Quartal 2019 fast verzehnfacht. Diese Mehrausgaben werden auf die Netznutzungsentgelte aufgeschlagen, was wiederum die Strompreise verteuern wird. Wer muss dann öffentlich für diese Preiserhöhungen einstehen? Es ist absehbar, dass der grüne Sündenbock schon bald wieder meckern wird…
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