Zwölf Uhr mittags am Regelenergiemarkt: Wir erzählen die Geschichte eines kleinen Marktes in großer Bedrängnis.
Der Markt für Regelenergie ist ein Markt für kurzfristige Reserven, die die deutschen Übertragungsnetzbetreiber benötigen, um das Stromnetz jederzeit ausbalancieren zu können. Es ist ein kleiner Markt. Die ausgeschriebenen Leistungen schwanken seit Jahren zwischen 8.000 und 11.000 Megawatt, dies sind gerade einmal 4 bis 5 Prozent der deutschlandweit insgesamt installierten Leistung an Kapazitäten zur Stromerzeugung. Auch finanziell ist der Markt nicht übermäßig bedeutend, im Jahr 2017 waren „nur“ etwas mehr als 200 Millionen Euro auf ihm zu verteilen.
So steht der Regelenergiemarkt selten im Rampenlicht, er gleicht einer verschlafenen Kleinstadt aus einem Western, ein bisschen langweilig und unscheinbar. Doch der Markt funktioniert und sorgt zuverlässig dafür, dass der Strom nicht großflächig ausfällt – der ja eine nicht ganz unwichtige volkswirtschaftliche Ressource ist. Zusätzlich sorgt das wettbewerbliche Umfeld dafür, dass die Regelenergiekosten seit Jahren sinken und so über die Netznutzungsentgelte alle Stromverbraucher entlasten.
Mit dieser Idylle ist es seit Oktober 2017 allerdings vorbei. Plötzlich ist es zwölf Uhr mittags am verschlafenen Regelenergiemarkt: Die Colts sitzen locker, die großen Jungs treffen sich vor dem Saloon und tauschen argwöhnische Blicke aus. Ein großer Unbekannter, dem die Pferde durchgegangen sind, sorgt für Ärger – und der Sheriff kann nur noch mit Mühe für Ruhe sorgen. Wir erzählen, ganz chronologisch, die Geschichte eines kleinen Marktes in Aufruhr und Bedrängnis.
Ein ganz normaler Tag am Regelenergiemarkt mit ganz normalen, niedrigen Preisen. Denn dank des zunehmenden Wettbewerbs, möglich gemacht unter anderem von Virtuellen Kraftwerken, flexiblen Stromerzeugern und Anbietern von Regelenergie aus Verbrauchsprozessen (Demand Side Management, DSM), sinken die Regelenergiekosten seit Jahren. Die sinkenden Leistungspreise wirken zudem dem Anstieg der von den Verbrauchern gezahlten Netznutzungsentgelten entgegen.
Auch die Ausschreibungsmengen haben sich verringert; einerseits dank der besseren Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber, andererseits dank der besseren Bilanzkreistreue aufgrund der höheren Prognosegüte für Erneuerbare Energien und im Strommarkt allgemein. Erzeugung und Verbrauch liegen immer besser im Gleichgewicht. Alle Stromverbraucher, egal ob private Haushalte oder Gewerbe und Industrie, können so bei jeder Jahresabrechnung Geld durch sinkende Netznutzungsentgelte sparen.
Wie in jedem guten Western gibt es auch hier einen leicht gestressten Sheriff – seine Rolle nimmt die Bundesnetzagentur (BNetzA) ein. Aufgeschreckt durch die Preisexplosion zieht die BNetzA eine Preisobergrenze bei den Geboten für die Aktivierung von Regelleistung ein. Kein Gebot darf mehr über 9.999 Euro pro Megawattstunde liegen. Damit wird zwar ein Anstieg der Arbeitspreise und so auch der Ausgleichsenergiepreise wie am 17. Oktober 2017 verhindert, zugleich widerspricht die Lösung aber den Grundsätzen eines Energy-Only-Marktes mit freier Preisbildung. Dieser wurde vom Bundeswirtschaftsministerium immerhin in einer Grundsatzentscheidung im „Weißbuch zum Strommarkt 2.0“ als Zielmodell definiert. Die Branche reagiert uneinheitlich in ihrer Bewertung, auch wir tragen in unserem Blog zur Diskussion bei.
Aus einer Pressemitteilung der BNetzA vom 16. Mai 2018:
„Die Bundesnetzagentur hat die Entscheidung getroffen, den Zuschlagsmechanismus bei der Ausschreibung von Regelenergie zu ändern. ,Die Analyse der Ursachen der extrem hohen Arbeitspreisgebote im Herbst 2017 hat gezeigt, dass der bisherige Zuschlagsmechanismus einer Weiterentwicklung bedurfte‘, erläutert Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, die Notwendigkeit der Änderung. Homann weiter: ,Ziel der neuen Regelung ist es, bei der Beschaffung von Regelenergie den Wettbewerbsdruck auf die Arbeitspreise zu erhöhen und damit das Beschaffungssystem effizienter zu machen.‘“
Allen Marktbeteiligten ist klar, dass ein neues Zuschlagsverfahren am Regelenergiemarkt etabliert werden soll. Nun soll im sogenannten Mischpreisverfahren bei der Bezuschlagung von Geboten zur Vorhaltung von Regelenergie nicht mehr der Leistungspreis allein, sondern auch der Arbeitspreis berücksichtigt werden. Dies führt zwangsläufig zu einer Erhöhung der Leistungspreise zur Vorhaltung der Minuten- und Sekundärreserve. Zudem dreht dieses Vorhaben das Verursacherprinzip am Regelenergiemarkt um – nun müssten die Stromverbraucher die Mehrkosten tragen und nicht die Bilanzkreisverantwortlichen, welche die Netzschwankungen verursachen. Dies haben wir bereits in einer Stellungnahme gegenüber den neuen Beschlüssen in unserem Blog zum Ausdruck gebracht.
In Köln wird Kriegsrat gehalten: Wir laden Unternehmen ein, die ebenso wie wir von den drohenden Änderungen betroffen sind. Es erscheinen Vertreter zahlreicher Unternehmen aus der Cleantech-Branche, die ebenso wie wir die Zukunft des Strommarkts in flexibler dezentraler Erzeugung, neuen Speichertechnologien und flexiblen Stromverbrauchern sehen. Die Runde ist sich einig: Das neue Mischpreisverfahren droht zu einem Geschenk für die Betreiber fossiler Großkraftwerke zu werden. Gemeinsam entschließen sich die anwesenden Unternehmen, Mittel für eine gemeinsame Klage von Next Kraftwerke gegen die BNetzA vor Gericht aufzubringen.
Next Kraftwerke stellt, unterstützt von anderen Branchenvertretern, einen Eilantrag, um das Mischpreisverfahren zu stoppen. Wir begründen die Entscheidung mit den hohen Zusatzkosten für die Netznutzer, die anfallen würden, wenn der Arbeitspreis über einen Zuschlagsfaktor auf den Leistungspreis mit einwirkte – allein aufgrund dieser Entscheidung erwarten wir Mehrkosten von mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr, einem Vielfachen der bestehenden Kosten. Zusätzlich befürchten wir eine verringerte Versorgungssicherheit, da das disziplinierende Moment der Ausgleichsenergie durch sinkende Ausgleichsenergiepreise (reBAPs) – die sich aus den Aktivierungskosten der Regelenergie berechnen – geschwächt würde. Auch wäre das Mischpreisverfahren nicht geeignet, die Integration neuer Technologien in die Regelenergiemärkte zu erleichtern, wie auch eine Studie der r2b energy consulting verdeutlicht. Laut den Autoren würden durch die Entscheidung zudem explizit Anbieter mit hohen variablen Kosten diskriminiert und Innovationen und dezentrale Angebotsoptionen aus dem Markt gedrängt – wobei gerade diese dazu beigetragen hätten, die positive Entwicklung der Regelenergiemärkte und gesunkene Regelenergiekosten zu ermöglichen. Zusätzlich sei die Entwicklung auch im Hinblick auf die ausgeübte Marktmacht einzelner Akteure zu betrachten.
Möglicherweise als Reaktion auf unseren gerichtlichen Eilantrag möchte ein Marktteilnehmer die Schwächen des alten Marktdesigns aufzeigen. Er bietet für eine sehr große Menge positiver Sekundärregelleistung einen Leistungspreis von null, gepaart mit sehr hohen Arbeitspreisen und bedient sich so den Gepflogenheiten der Kanonenbootdiplomatie: Der aufgrund des gebotenen Volumens zweifellos konventionelle Anbieter will zeigen, dass er als pivotaler Anbieter den Markt beherrschen kann. Erneut wird es kritisch für das Regelenergiesystem, Stadtwerke und kleinere EVUs blicken mit Sorge auf die potenziellen reBAP-Preise.
Am ersten Auktionstag des neuen Mischpreisverfahrens geben bis acht Uhr morgens die Anbieter ihre Gebote ab – eine schwierige Aufgabe unter diesen neuen Vorzeichen. Die Leistungspreise in der positiven und negativen Sekundärregelleistung steigen sprunghaft an, die Arbeitspreise gehen deutlich herunter. Doch auch wenn diese Entwicklung zu erahnen war – das bisherige Preisgefüge ist durcheinander, die zuvor zurechtgelegten Gebotsstrategien für das neue Mischpreisverfahren werden auf die Probe gestellt. Insgesamt steigen die negativen SRL-Leistungspreise von bislang um null Euro auf 52 bis 68 Euro pro Megawatt an. In der positiven SRL sinken die Preise vom Vorwochenniveau (100 bis 200 Euro) auf 48 bis 58 Euro pro Megawatt ab. Schon jetzt steht aber fest: Ein Tag im neuen Mischpreisverfahren verursacht nahezu doppelt so hohe Kosten für Sekundärregelleistung wie eine ganze Woche nach dem bisherigen Verfahren.
Die Bundesnetzagentur hat erreicht, was sie wollte: Das Niveau der Arbeitspreise sinkt, dafür gehen die Leistungspreise durch die Decke. Deutlich sichtbar ist, dass aufgrund der Mischpreisformel Anbieter mit höheren Gestehungskosten sehr geringe Arbeitspreise anbieten müssen, um im Geschäft zu bleiben – zumal sie nur mit Leistungspreisen nahe Null eine wirkliche Chance haben. Die konventionellen Anbieter hingegen können sich dank ihrer unterschiedlichen Kostenstruktur allein über die erhöhten Leistungspreise – das heißt über die Stromrechnung der Verbraucher – komfortabel finanzieren.
Der Aufschrei bleibt jedoch nicht nur aufgrund der vermeintlichen Unscheinbarkeit des Regelenergiemarktes aus: Die Rechnung wird schließlich erst mit deutlichem Zeitversatz, nämlich zum Ende der Jahresabrechnung serviert. Pro Haushalt könnten dabei schätzungsweise ein- bis niedrige zweistellige Eurobeträge fällig werden. Großverbraucher aus Industrie und Gewerbe sind exponenziell stärker betroffen – aufgrund ihres bedeutend höheren Stromverbrauchs – allerdings nur wenn sie nicht aus verschiedenen Gründen von den Netznutzungsentgelten befreit sind.
Am Freitag erlässt das Oberlandesgericht Düsseldorf zwar nicht um fünf vor zwölf, aber immerhin um fünf nach zwölf einen Beschluss: Das Mischpreisverfahren wird bis zum 15. Oktober 2018 ausgesetzt, weil das Gericht sich in dieser Zeit ein vollständiges Bild über die möglichen Folgen der regulatorischen Veränderungen machen muss.
Die Teilnehmer des Regelenergiemarktes reagieren überrascht. Die Plötzlichkeit der Entscheidung führt für die Händler dazu, dass vorherige, teils aufwendige Anpassungen auf das Mischpreisverfahren wieder zurückgenommen werden müssen. Ab Liefertag 14. Juli läuft auf dem Regelenergiemarkt alles wieder nach dem alten, getrennten Leistungspreis-Arbeitspreis-Verfahren – allerdings bleibt die Lage unruhig.
Ab dem Liefertag 14. Juli 2018 nimmt der Regelenergiemarkt wieder im getrennten Leistungspreis-Arbeitspreis-Verfahren den Betrieb auf. Neu sind lediglich die seit dem Liefertag 12. Juli eingeführten kalendertägliche Auktionen von SRL in vierstündigen Zeitscheiben und die Senkung des Markteintrittslimits auf 1 MW.
Die Händler stellen fest, dass sie ihre Strategien überdenken müssen. Denn die Preise auf dem Regelenergiemarkt haben sich nicht normalisiert – ganz im Gegenteil. Die großen konventionellen Marktteilnehmer halten die SRL-Leistungspreise weiter hoch und zeigen ihre Marktmacht. Ein Ende der Kanonenbootstrategie ist nicht in Sicht.
Ein Vergleich zweier Markttage der Zeit nach dem 12. Juli 2018 zeigt, dass der Markt zwar Selbstregulationsfähigkeit besitzt – er ist aber nach wie vor auf den guten Willen seiner größten Teilnehmer angewiesen. Diese haben derzeit aber kein Interesse an dörflicher Ruhe in der kleinen Stadt namens Regelenergiemarkt.
In der negativen SRL hat sich der Markt wieder reguliert – über den Wettbewerb gelingt es langsam, wieder Ruhe in die Abläufe zu bekommen. In der positiven SRL sind jedoch nach wie vor sehr hohe Arbeitspreise sichtbar, da nach wie vor der Markt für positive SRL von einzelnen Anbietern dominiert wird. Hier findet weiterhin zu wenig Wettbewerb statt – zu Lasten der Verbraucher und der kleinen Marktteilnehmer.
Ein gesunder Markt lebt von gesunder Konkurrenz. Die vorläufige Entwicklung im Streit um das Mischpreisverfahren am Regelenergiemarkt zeigt, dass unsere Forderungen auch bei Gericht mit Interesse wahrgenommen werden. Wie in einer funktionierenden Kleinstadt müssen sich alle Akteure auf Augenhöhe begegnen und große Machtkonzentration tut weder Städten noch Märkten gut. Konzentrierte Marktmacht kann jedes Marktdesign sprengen – egal wie es ausgestaltet ist.
In unserer Geschichte hat der Sheriff in Gestalt der BNetzA nicht nur eines, sondern beide Augen gegenüber den großen und konventionellen Jungs zugedrückt. Diese haben mehr als einmal im Verlauf der Geschehnisse gezeigt, über welche Möglichkeiten sie zur Unruhestiftung im Markt verfügen und, sollte sich das Mischpreisverfahren durchsetzen, künftig verfügen werden.
Es ist und bleibt ein Grundproblem eines jeden Marktes, wenn sich Monopole mit einseitigen Interessen durchsetzen können. Ob dies kartellrechtlich oder ordnungspolitisch durch die Wiederherstellung freier Preise im Regelenergiemarkt gemäß den Absichten des „Weißbuchs“ geschieht, bleibt abzuwarten. Fakt ist: Einen Regelenergiemarkt, der mit freier Preisbildung nicht nur Innovationen und Flexibilisierung, sondern auch Peakkraftwerken die Existenz ermöglicht, ist möglich. Denn der alte Westen war nicht nur wild – er war vor allem offen und frei für alle, die ihr Glück suchen wollten.
Mit dieser Idylle ist es seit Oktober 2017 allerdings vorbei. Plötzlich ist es zwölf Uhr mittags am verschlafenen Regelenergiemarkt: Die Colts sitzen locker, die großen Jungs treffen sich vor dem Saloon und tauschen argwöhnische Blicke aus. Ein großer Unbekannter, dem die Pferde durchgegangen sind, sorgt für Ärger – und der Sheriff kann nur noch mit Mühe für Ruhe sorgen. Wir erzählen, ganz chronologisch, die Geschichte eines kleinen Marktes in Aufruhr und Bedrängnis.
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