Durch ein fehlerhaftes Datenpaket kam es an der europäische Strombörse EPEX in Paris am 7. Juni 2019 zu einer Entkopplung des europäischen Strommarktes und großer Aufregung an den Märkten. Johannes Päffgen, Stromhandelschef bei Next Kraftwerke, erläutert im Interview Ursachen und Folgen.
Christian Sperling: Johannes – was ist passiert? Warum ist es am Freitag vor Pfingsten zum Chaos bei der EPEX gekommen?
Johannes Päffgen: Tja – es läuft letztlich auf einen Computerfehler hinaus … aber darauf sollten wir später eingehen. So etwa ab 11:40 Uhr merkten wir an diesem Freitag, dass etwas bei der EPEX nicht stimmt. Wir konnten keine Gebote für den Day-Ahead-Stromhandel am Samstag mehr abgeben.
Christian: Wie der Name schon sagt: Im Day-Ahead-Handel legt ihr Eure Gebote für den nächsten Stromhandelstag fest?
Johannes: Genau. Alle Marktteilnehmer in Europa, die sich am Day-Ahead-Handel bei der EPEX beteiligen, müssen bis 12 Uhr mittags eines jeden Tages ihre Gebote für den Folgetag abgeben. Dies geschieht, indem wir und alle anderen Marktteilnehmer ein Datenpaket mit unseren Geboten für den Folgetag übermitteln.
Christian: Und hier begannen die Probleme?
Johannes: Sieht so aus. Wie die EPEX jetzt mitteilte, hat ein unbekannter Marktteilnehmer offenbar ein „korruptes“ Datenpaket an die EPEX übermittelt – was auch immer das genau heißt. Auch wir übermitteln recht komplexe Gebotspakete an die EPEX, Händler sind ja immer bestrebt, den ihnen zur Verfügung stehenden Spielraum voll auszunutzen. Einen Hackerangriff oder Schadsoftware hat die EPEX nicht erwähnt – es hat aber den Handelsserver bei der EPEX in die Knie gezwungen und führte zu einem Serverneustart.
Christian: Sind die Systeme bei der EPEX nicht redundant ausgelegt? Wir müssen ja auch für alle unsere Vorgänge Fallback-Lösungen und Backups vorhalten …
Johannes: Na klar. Die EPEX hat mit dem Neustart das korrupte Gebot entfernt. Allerdings wurde das Gebot erneut übermittelt – trotz Rücksprache. Dies setzte wohl nicht nur den Hauptrechner, sondern auch die Backup-Server des Redundanzsystems vollständig außer Gefecht.
Mit anderen Worten: So ab zwölf Uhr war klar, dass „business as usual“ definitiv vorbei ist. Alle Gebote, die bis zu diesem Zeitpunkt abgebeben wurden, waren spätestens ab diesem Zeitpunkt zweifelhaft.
Christian: Sind für einen solchen Fall Notmaßnahmen vorgesehen?
Johannes: Für einen solchen Fall sehen die Regularien des europäischen Marktkopplungssystems eine Entkopplung oder englisch Decoupling der einzelnen Marktbereiche vor: Ab diesem Zeitpunkt wird für den Folgetag nicht mehr im Verbund der europäischen Strommärkte, sondern in jedem Land für sich allein auktioniert.
Christian: Was hat das für Konsequenzen?
Johannes: Zunächst einmal sorgt das für große Aufregung: Ein Wegfallen des Market Couplings hat ähnliche Auswirkungen wie geschlossene Grenzübergänge für den Warenverkehr: Differenzen zwischen Erzeugung und Verbrauch lassen sich nicht mehr über die Grenzkuppelstellen ausgleichen. Die Preise divergieren, das Ziel des Market Coupling ist es, durch sinnvolles Ausnutzen der Grenzkapazitäten Preiskonvergenz herbeizuführen.
Christian: Hat dies zu den großen Preisschwankungen in Belgien geführt? Dort sind am betroffenen Tag hohe negative Preise von rund minus 134 Euro pro Megawattstunde aufgetreten …
Johannes: Grundsätzlich ja, aber die Entkopplung ist nur ein Grund für diesen negativen Preisanstieg. Der andere und wichtigere Grund liegt in der Annullierung der fehlerhaften Preise durch die EPEX, nachdem diese festgestellt hatte, dass die Zahlen offensichtlich nicht stimmen konnten.
Belgien hatte in der ersten, fehlerhaften Runde plötzlich einen Strompreis von plus 2233,39 € Euro pro MWh – an einem sonnigen und sehr windigen Tag. Da konnte etwas nicht stimmen. Nach der Annullierung und Wiedereröffnung der Gebotsphase bis 14:35 Uhr lag der Preis dann bei den bereits genannten rund minus 134 Euro pro Megawattstunde.
Christian: Das Wetter zu Pfingsten hat also mit zu der negativen Preisentwicklung beigetragen?
Johannes: Nicht nur das sonnige und windige Wetter – auch Pfingsten an sich. Wir hatten einen sehr guten PV-Tag, einen enorm guten Windtag und durch die Feiertage europaweit einen geringen Verbrauch. In Belgien war die Windprognose sogar so hoch wie noch nie zuvor.
Die deutsche Fachpresse hat daher auch vor allem die Wetterlage als Grund für die negative Preisentwicklung in Belgien angesehen – das ist zwar nicht falsch, ignoriert aber die außergewöhnlichen Ereignisse vom Freitag vor den Feiertagen. Spannend ist auch, dass wir mit der verspäteten, erneuten Gebotsabgabe bis 14:35 Uhr technisch eigentlich schon im Intradaymarkt lagen – das ist in jeder Hinsicht unüblich.
Christian: Kannst du das näher erläutern?
Johannes: Die Veröffentlichung der ersten, massiv zu hohen Preise hat definitiv zu einer Marktbeeinflussung in Belgien und anderswo geführt. In der ersten Auktion lagen die Preise für Belgien bei plus 2.000 Euro – die Betreiber dachten „Wow, wir verdienen unendlich viel Geld“.
Eine nachvollziehbare Reaktion bei solchen Preisen ist es natürlich, bildlich gesprochen das Gaspedal durchzutreten: „Kriegen wir nicht irgendwo doch noch eine Megawattstunde in den Markt?“ Dann die Annullierung und alles dreht sich um – die Betreiber mussten extrem draufzahlen, es war viel zu viel Strom im Markt. Von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt – an diesem Tag war alles geboten.
Christian: Ist das eine direkte Folge des Market Decouplings?
Johannes: Auf jeden Fall. Das Ziel des Market Couplings ist, innerhalb der ganzen Kopplungszone halbwegs gleiche Preise zu schaffen, also eine gleichmäßige Verteilung zu schaffen – natürlich unter Berücksichtigung der begrenzten Kapazität der Grenzkuppelstellen. All dies berechnet der Euphemia-Algorithmus der EPEX bei der Preisfeststellung mit ein.
Fällt die Kopplung aber weg, bleibt mehr Strom in einem Land, während er in einem anderen fehlt, der Ausgleich ist nicht mehr gegeben. Die Unterbrechung hat also definitiv zu Wohlfahrtsverlusten geführt, bei allen Beteiligten.
Christian: Haben die Ereignisse direkte Folgen für uns gehabt?
Johannes: Sehr schnell war klar, dass es sich um eine besondere Situation handelt. Wir haben unsere Optionen evaluiert und die Risiken abgeschätzt. Nervös waren wir nicht direkt – aber spannend war es schon, wir haben solche Probleme bei der EPEX auch noch nicht erlebt.
Christian: Also blieben wir jederzeit handlungsfähig?
Johannes: Na klar – aber wir wollen uns hier nicht auf die Schulter klopfen. Denn klar ist auch: Bei der ganzen Sache liegt definitiv kein Marktversagen vor – auch wenn negative Strompreise in der Fachpresse ganz gerne mit einem alarmierten Unterton bedacht werden.
Jenseits jeglicher Diskussion um erneuerbare und fossile Energieträger bietet der Strommarkt positive wie negative Vorzeichen vor den Preisen. Wir als Marktakteure müssen darauf reagieren und das haben wir getan – auch wenn die Gegebenheiten am frühen Freitagnachmittag natürlich alles andere als durchsichtig waren.
Christian: Werden die Ereignisse vom 7. Juni denn Folgen für die EPEX haben?
Johannes: Davon ist auszugehen, schließlich haben viele Marktteilnehmer Geld verloren und die Lage war alles andere als angenehm. Die Frage, warum alle Sicherheitsmechanismen und Redundanzen versagt haben, steht im Raum und muss beantwortet werden. Bleibt sicher spannend, diese Entwicklungen weiter zu beobachten.
Christian: Genau das machen wir. Wir danken Dir für das Gespräch!
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