Das Gesetz zur Weiterentwicklung des Strommarktes (Strommarktgesetz) ist zum 30. Juli 2016 vollständig in Kraft getreten (einige Teile des Gesetzes sind bereits rückwirkend zum 1. Januar 2016 in Kraft getreten). Als Mantelgesetz legt es Änderungen vieler strommarktbezogener Gesetze und Verordnungen fest, zum Beispiel des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG), des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) und der Reservekraftwerksverordnung (jetzt NetzResV). Innerhalb der Änderungen des EnWG sieht das Strommarktgesetz die Einrichtung verschiedener Mechanismen zur Reserveleistungsvorhaltung vor, damit immer genug Kraftwerke bereitstehen, die einspringen können, wenn einmal nicht genug Strom im Markt bereitstehen sollte, um die Stromnachfrage zu decken. Diese Mechanismen sind insbesondere die Netzreserve (§13d), die Kapazitätsreserve (§13e), die Sicherheitsbereitschaft von Braunkohlekraftwerken (§13g) und besondere netztechnische Betriebsmittel, ehemals als Netzstabilitätsreserve bekannt (§11 Abs. 3, ehemals §13k - gekippt durch EU-Kommission).
Der Entwurf des neuen Strommarktgesetzes wurde am 23. Juni 2016 vom Bundestag mit einigen Maßgaben angenommen und am 29. Juli im Bundesgesetzblatt verkündet. Allerdings sind noch einige Bereiche des neuen Strommarktgesetzes beihilferelevant und bedürfen daher der Zustimmung durch die EU-Kommission. Am 30. August 2016 hat die Bundesregierung hierzu eine vorläufige Verständigung mit der EU-Wettbewerbskommissarin erreicht, sodass die neuen Regelungen vorbehaltlich einiger Anpassungen wie geplant umgesetzt werden sollten.
Im Folgenden haben wir die Mechanismen zur Reserveleistungsvorhaltung aus dem geänderten EnWG zusammengefasst.
Die Netzreserve (umgangssprachlich auch „Winterreserve“) wurde durch die Reservekraftwerksverordnung (gemäß Artikel 6 des Strommarktgesetzes neuerdings „Netzreserveverordnung“) eingeführt, die bereits am 6. Juli 2013 in Kraft getreten ist. Mit §13d erhält die Netzreserve nun einen eigenständigen Paragraphen im EnWG, der durch die Netzreserveverordnung präzisiert wird.
Die Netzreserve wird jedes Jahr jeweils im Winterhalbjahr gebildet, um Kraftwerkskapazitäten für Redispatch-Eingriffe der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) zurückzuhalten, die über den gewöhnlichen Redispatch hinausgehen. Hintergrund ist, dass der Strombedarf im Winter in der Regel besonders hoch ist, während gerade in den Windparks im Norden Deutschlands viel Strom produziert wird. Auf Grund von Netzengpässen auf dem Weg vom Norden in den Süden müssen die ÜNB dann häufig Kraftwerke im Norden abschalten und Anlagen im Süden mit gleicher Leistung hochfahren (Redispatch), um das Stromnetz zu entlasten und den Bedarf vollständig zu bedienen. Da durch den Atomausstieg bis zum Jahr 2022 insbesondere in Süddeutschland weitere Kraftwerkskapazitäten aus dem Markt ausscheiden werden, wird sich dieses Nord-Süd-Gefälle vermutlich in den nächsten Jahren zunächst verschärfen.
Die Bundesnetzagentur (BNetzA) veröffentlicht auf ihrer Website regelmäßig den Bedarf an Kraftwerksleistung in der Netzreserve. In ihr werden (hauptsächlich in Bayern und Baden-Württemberg) flexible Kraftwerksleistungen vorgehalten, die bei Netzengpässen, Spannungsverlusten oder nach einem Blackout einspringen können. Die Netzreserve wird aus Anlagen gebildet, die momentan nicht betriebsbereit sind, aber von den ÜNB als systemrelevant eingestuft werden, und aus systemrelevanten Anlagen, die vorläufig oder endgültig stillgelegt werden sollten, sowie aus geeigneten Anlagen im europäischen Ausland (§13d Abs. 1 Nr. 1). Die Betriebsbereitschaftskosten, also die einmaligen und fortlaufenden Kosten der Herstellung und des Erhalts der Betriebsbereitschaft, werden den Anlagebetreibern dann erstattet (§13c Abs. 1). Die Kosten werden auf die Netzentgelte umgelegt.
Der Strom aus diesen Anlagen darf während ihrer Zeit in der Netzreserve (gemäß §13b Abs. 4 S. 2 zwei Jahre ab der ersten Ausweisung als systemrelevant und zusätzlich jeweils bis zu 2 Jahre für alle weiteren Ausweisungen) nicht am Strommarkt verkauft werden. Die Netzreserveanlagen müssen aber für den Bedarfsfall in Bereitschaft gehalten werden. Sie dürfen gleichzeitig auch an der Ausschreibung zur Kapazitätsreserve teilnehmen. Wenn sie dort bezuschlagt werden, werden die Anlagen nur für die Kapazitätsreserve vergütet, müssen aber weiterhin auf Geheiß der ÜNB innerhalb der Netzreserve ihre Leistung anpassen. Wenn die Anlagen nach ihrer Zeit in der Netzreserve wieder am Strommarkt aktiv werden, müssen die Betreiber den Restwert der investiven Vorteile durch die Vergütung in der Netzreserve zurückzahlen (§13c Abs. 2 S. 2).
Die EU-Kommission hat die Netzreserve grundsätzlich gebilligt, sieht jedoch vor, dass ihr Umfang bis zum Winter 2019/2020 stufenweise um insgesamt 1,5 GW gesenkt wurde (Seite 2). Die Reduktion soll durch Flexibilisierungsmaßnahmen im Strommarkt aufgefangen werden.
Informationen der Bundesnetzagentur zufolge steigt der Bedarf an Netzreserve in Deutschland: In einem Bericht zum Netzreservebedarf informiert die Behörde darüber, dass für den Winter 2022/2023 insgesamt 8.264 MW benötigt werden. Dieser Bedarf kann im kommenden Winter nicht mehr, wie zuvor in 2021/2022, ausschließlich durch Inlandskapazitäten gedeckt werden. Eine zusätzliche Absicherung durch ausländische Kapazitäten sei daher notwendig.
Im Winter 2021/2022 wurde zuletzt noch ein Reservebedarf von 5.670 MW bei der BNetzA angezeigt. Somit steigt die innerdeutsche Netzreserve im Jahr danach um 1.442 MW an. Grund für den gestiegenen Netzreservebedarf ist laut Auffassung der BNetzA weiterhin der kontinuierliche Ausbau der erneuerbaren Energien und der langsame Netzausbau. Der Bedarf erhöht sich zudem durch eine EU-Verordnung, die eine Zunahme der Handelskapazitäten zwischen den Mitgliedsstaaten fordert.
Für den Winter 2023/2024 wurde ein geringerer Netzreservebedarf von 5.361 MW ermittelt. Somit sinkt dieser Bedarf deutlich im Vergleich zum Winter 2022/2023. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Netzausbau entsprechend der Prognosen voranschreitet.
Für den Winter 2024/2025 wird ein Bedarf von 6.947 MW an Erzeugungskapazitäten aus Netzreservekraftwerken erwartet. Im Betrachtungszeitraum 2026/2027 wird der vorläufige Bedarf auf 9.202 MW geschätzt. Im kommenden Winter kann der Netzreservebedarf nicht vollständig durch inländische Netzreservekraftwerke gedeckt werden, weshalb die Beschaffung zusätzlicher Netzreserveleistung aus ausländischen Kraftwerken notwendig ist.
Der neue §13e des EnWG sieht vor, dass die ÜNB die Kapazitätsreserve vorhalten müssen, um Leistungskapazitäten hochzufahren, wenn Angebot und Nachfrage auf den deutschen Strommärkten nicht vollständig ausgeglichen werden können. Damit steht der Abruf der Kapazitätsreserve zeitlich hinter der Strombörse und den Regelenergiemärkten, die Anlagen sollen aber laut Weißbuch (Seite 81) je nach ihrer spezifischen Anfahrtszeit bereits am Vortrag aktiviert werden, wenn in der Day-Ahead-Auktion kein markträumendes Ergebnis erzielt werden konnte.
Ab dem Winterhalbjahr 2020/21 werden Kraftwerke in die Kapazitätsreserve überführt, die dann nicht mehr aktiv auf den Strommärkten agieren (Vermarktungsverbot) und ausschließlich auf Signal der ÜNB ihre Leistung erhöhen dürfen. Sie sind also für den Fall bestimmt, dass im Winter über Marktmechanismen nicht genug Leistung bereitgestellt werden kann, um den Strombedarf zu decken, also dann wenn insbesondere PV-Anlagen ihre niedrigste Stromproduktion aufweisen.
Damit die Kapazitätsreserve rechtzeitig bereitsteht, führen die ÜNB ab dem Jahr 2019 regelmäßig ein wettbewerbliches Ausschreibungsverfahren oder gleichwertiges Beschaffungssystem durch. Ab dem Winterhalbjahr 2020/21 sollen jeweils 2 GW kontrahiert werden. Ab dem Winterhalbjahr 2022/23 ist ebenfalls eine Reserveleistung von 2 GW vorgesehen, Anpassungen sind jedoch vorbehalten. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) prüft bis zum 31 Oktober 2018 (und ab dann mindestens alle zwei Jahre) auf Basis des Monitoringberichts der BNetzA diese Anpassung des Umfangs der Kapazitätsreserve.
Ergebnisse der Ausschreibungen werden auf der Seite von Netztransparenz.de veröffentlicht.
Anlagen können mehrmals am Beschaffungsverfahren für die Kapazitätsreserve teilnehmen. Sie erhalten dann eine jährliche Vergütung, die innerhalb des Beschaffungsverfahrens der ÜNB festgelegt wird. Die Vergütung soll folgende Kosten abgelten:
Gesondert vergütet werden:
Die Kosten der Kapazitätsreserve werden ebenfalls über die Netzentgelte umgelegt. Wenn die Anlagen aus der Kapazitätsreserve gehen, müssen sie stillgelegt werden (Rückkehrverbot), dies gilt allerdings nicht für Lasten (Stromverbraucher) in der Kapazitätsreserve. Zur Kapazitätsreserve besteht außerdem weiterhin eine Verordnungsermächtigung (§ 13h). Die EU-Kommission hat außerdem entschieden, dass das BMWi (bzw. die BNetzA) im Herbst 2016 eine Systemanalyse durchführen muss (Seite 2), um den tatsächlichen Bedarf einer Kapazitätsreserve erneut zu bestätigen. Erst wenn dies geschehen ist, wird die Kapazitätsreserve wie oben beschrieben eingeführt.
Für den ersten Erbringungszeitraum vom 1. Oktober 2020 bis 30. September 2022 endete das Ausschreibungsverfahren am 1. Dezember 2019. Von den ausgeschriebenen 2.000 MW wurden 1.065 MW bezuschlagt. Somit war die Ausschreibung deutlich unterzeichnet. Drei Unternehmen hatten erfolgreiche Gebote. Unter ihnen RWE mit 680 MW, die Lausitz Energie Kraftwerke AG (Leag) mit 270 MW und Statkraft mit 106 MW. Für die Reservevorhaltung erhalten die Anbieter 68.000 Euro pro Jahr und Megawatt.
Für den Erbringungszeitraum vom 1. Oktober 2022 bis zum 30. September 2024 endete das Ausschreibungsverfahren am 1. Dezember 2021. Insgesamt wurden 1.086 Megawatt Reserveleistung bezuschlagt mit einem Zuschlagswert von 62.940 Euro pro Megawatt und Jahr. Der größte Anteil der bezuschlagten Menge mit 710 MW liegt bei der RWE Generation SE, gefolgt von der Lausitzer Energiekraftwerke AG mit 270 MW und der Statkraft Markets GmbH mit insgesamt 106 MW.
Die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Verstager meldet in einer Pressemitteilung der EU-Kommission vom 7. April 2017 beihilferechtliche Zweifel an der geplanten deutsche Kapazitätsreserve an.
"Wir haben derzeit Zweifel an der Erforderlichkeit dieser Maßnahme und Bedenken bezüglich ihrer Ausgestaltung", erklärte EU-Kommissarin Verstager in Brüssel und will die Annahmen und Szenarien der Bundesregierung nun prüfen lassen. Außerdem habe die EU-Kommission den Eindruck gewonnen, dass die Bundesregierung offenbar nicht plane, die eigentlich auf zwei Jahre befristete Kapazitätsreserveregelung zügig zu beenden.
Zusätzlich wurde bemängelt, dass die Voraussetzungen für die Teilnahme von Anbietern für regelbare Lasten (Demand-Side-Management) nicht offen genug seien. So seien ausländische Kapazitätsanbieter ausgeschlossen. Generell stehen die sich entwickelnden Kapazitätsreservemechanismen in den EU-Mitgliedstaaten unter scharfer Beobachtung der EU-Kommission: So sollen Kapazitätsreserven nur bei absoluter Notwendigkeit eingeführt werden und möglichst kostenneutral sein.
Zusätzlich zur Netzreserve und Kapazitätsreserve schreibt §13g des EnWG die Bildung einer Sicherheitsbereitschaft aus Braunkohlekraftwerken vor (umgangssprachlich auch „Braunkohlereserve“ oder „Klimareserve“).
Folgende acht Kraftwerksblöcke mit einer Gesamtleistung von 2,7 GW (entspricht 13 % der installierten Braunkohleleistung) sollen schrittweise in die Sicherheitsbereitschaft überführt werden:
Das bedeutet, dass die Kraftwerke vorläufig stillgelegt und nach jeweils vier Jahren in der Sicherheitsbereitschaft endgültig stillgelegt werden. Im Jahr 2023 soll die Sicherheitsbereitschaft also vollständig aufgelöst sein.
Die Kraftwerke in der Sicherheitsbereitschaft dürfen nicht mehr am Markt aktiv sein (Vermarktungsverbot), also nicht mehr regulär laufen. Sie werden aber für den Fall vorgehalten, dass die Stromproduktion einschließlich aller regulären Sicherheitsmaßnahmen (wie Redispatch, Regelenergie, Abschaltbare Lasten, Netzreserve und Kapazitätsreserve) einmal nicht ausreichen könnte, um den Verbrauch zu decken. Bei einer Anforderung durch die ÜNB müssen die Anlagen innerhalb von 240 Stunden (10 Tagen) betriebsbereit sein; nach Herstellung der Betriebsbereitschaft müssen sie innerhalb von 11 Stunden auf Mindestteilleistung und innerhalb von weiteren 13 Stunden auf Nettonennleistung angefahren werden können. Den Nachweis, dass sie dazu imstande sind, müssen sie vorher erbringen. Dafür erhalten die Anlagenbetreiber (MIBRAG, RWE und Vattenfall) eine Vergütung von insgesamt 1,61 Milliarden Euro (230 Millionen Euro pro Jahr), die auch hier auf die Netzentgelte umgelegt wird. Für die anschließenden Kosten der endgültigen Stilllegungen sollen die Betreiber aber selbstständig aufkommen und die Vergütung der Sicherheitsbereitschaft soll sinken, wenn die Kraftwerke nicht rechtzeitig auf einen Abruf reagieren (bis auf null ab dem 13. Tag). Bei vorzeitiger endgültiger Stilllegung bekommen die Betreiber allerdings eine einmalige Abschlussvergütung, im Gespräch ist dafür eine Zahlung von ein bis zwei Milliarden Euro.
Die Sicherheitsbereitschaft bezieht sich aus dem Grund auf Braunkohle, dass Braunkohle 50 % der CO2-Emissionen des Stromsektors verursacht (Folie 41), aber nur 24% der deutschen Stromversorgung deckt (Folie 12). Sie ist damit der klimaschädlichste Energieträger im deutschen Energiemix bei einer relativ geringen Energiedichte. Ab 2020 sollen mit dem Ausscheiden der Braunkohlekraftwerke aus dem Markt jährlich 12,5 Millionen Tonnen CO2-Emissionen eingespart werden, was ungefähr 50% der bis dahin nötigen Einsparungen der Energiewirtschaft entspricht, um Deutschlands Klimaschutzziel für das Jahr 2020 zu erreichen. Wenn bis zum 30. Juni 2018 absehbar ist, dass dieses Ziel nicht erreicht wird, müssen die Betreiber bis zum 31. Dezember 2018 weitere Maßnahmen zur CO2-Einsparung vorschlagen.
Die Beihilfen für die Stilllegung von Braunkohlekraftwerken in der Sicherheitsbereitschaft genehmigte die Europäische Kommission am 27. Mai 2016.
Anfang 2018 stellten die Bundestagsfraktionen der Linken und Grünen sowie der Bund der Steuerzahler die Frage, ob die Bundesregierung bei der Einführung der Sicherheitsbereitschaft zu großes Vertrauen in die Braunkohleindustrie gesetzt habe. Denn Informationen der "Welt" zufolge prüft die Bundesregierung nicht nach, ob die Anlagen, wie vertraglich festgelegt, wirklich in extremen Netzzuständen innerhalb von zehn Tagen einsatzbereit sein können.
So kritisiert der Bund der Steuerzahler, dass die materielle Grundlage einer Millioneninvestition nicht geprüft werde, das Risiko trügen die Stromkunden. Auch Claudia Kemfert, Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen, äußert Bedenken: Ob genügend Personal oder Ressourcen im Bedarfsfall zur Verfügung stünden, sei fraglich. So sei es zwar technisch möglich, ein Braunkohlekraftwerk innerhalb von 10 Tagen zu reaktivieren – allerdings müsste das Kraftwerk dann dauerhaft Ressourcen vorhalten. Eine Vollausstattung, so Kemfert, würde sich jedoch nicht rechnen. Die Bundestagsfraktion der Linken zweifelt in einer kleinen Anfrage im Bundestag vor allem die rechtzeitige Bereitstellung von Kohle an: Bei einer Reaktivierung des ostdeutschen Braunkohlekraftwerks Buschhaus müsste die Kohle nun aus 200 Kilometer Entfernung per Bahn herangeführt werden, da der benachbarte Tagebau ausgekohlt sei – bei einem Tagesverbrauch von 6.000 Tonnen wären dies 240 Kohlewagen pro Tag.
Auch in der Antwort auf eine erneute kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 26. Februar 2018 blieb unklar, ob und mit welchen Mitteln insbesondere das Kraftwerk Buschhaus tatsächlich binnen elf Tagen wieder angefahren werden könnte. Die Bundesregierung verwies erneut bezüglich der anspruchsvollen Kohlelogistik auf die Zusicherungen der Kraftwerksbetreiber in §13g des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG). Auch bezüglich des vorgetragenen Problems, dass die mitteldeutsche Braunkohle mit ihrem hohen Wassergehalt in unbeheizten Kohlewagen bei Frost erheblich schwieriger zu transportieren sei, wurde auf diese Zusicherungen verwiesen. 1978 hatte in unbeheizten Kohlewagen festgefrorene und so nicht mehr schüttfähige Braunkohle fast zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung in der DDR geführt.
In der Kritik steht daher insbesondere die schwache Sanktionspraxis: Gelingt das Wiederanfahren eines Kraftwerks nicht in der vorgegebene Zeit von zehn Tagen, wird die Vergütung für die Sicherheitsbereitschaft um zehn Prozent pro Jahr gekürzt. Bei der ohnehin sehr geringen Abrufwahrscheinlichkeit, gepaart mit den fehlenden Kontrollen, sind Verluste bei der Vergütung für die Braunkohleindustrie also extrem unwahrscheinlich. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter fasst bei "Welt Online" zusammen: "Die Stromverbraucher zahlen für etwas, bei dem noch nicht mal klar ist, ob es das gibt."
In der Antwort auf die bereits im vorigen Absatz erwähnte kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 26. Februar 2018 nannte das Bundeswirtschaftsministerium konkrete Zahlen zu den Kosten der Sicherheitsbereitschaft: Die Betreiber der sich bereits in Sicherheitsbereitschaft befindlichen Braunkohlekraftwerke Buschhaus und Frimmersdorf erhalten für 2017 und 2018 in Summe 234 Millionen Euro. Davon entfallen 85 Millionen Euro auf 2017 und 149 Millionen Euro auf 2018, aufgebracht aus den Netzentgelten der Stromverbraucher. Welche konkreten Maßnahmen in den betroffenen Kraftwerken von diesen Summen finanziert werden, bleibt unbekannt: So liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse über die Anzahl der beschäftigten Mitarbeiter in den fraglichen Kraftwerken vor.
Sollten die Zusicherungen der Kraftwerksbetreiber in §13g des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) nicht eingehalten werden, so die Bundesregierung, verringere sich die Vergütung auf null bzw. um "einen bestimmten Prozentsatz, je nachdem aus welchen Gründen die Anlage nicht rechtzeitig betriebsbereit gemacht werden [könne]." Für Streitfälle wurde auf die Gerichte verwiesen. Ein Praxistest dieser Vorgehensweise steht noch aus: Bislang wurde die Sicherheitsbereitschaft noch nicht angefordert.
Bisher (Stand April 2021) kamen die in Sicherheitsbereitschaft versetzten Braunkohlekraftwerke nicht zum Einsatz. Dennoch wurden allein für die Jahre 2017 und 2018 zusammen 234 Millionen Euro fällig; für den gesamten, siebenjährigen Zeitraum der Sicherheitsbereitschaft sind 1,6 Milliarden Euro veranschlagt.
Ein tatsächlicher Einsatz lag und liegt wohl auch gar nicht in der Intention der politischen Entscheider: "Wir gehen davon aus, dass die Kraftwerke nicht zum Einsatz kommen" ließ sich Staatssekrätär Rainer Baake für den energate messenger bereits bei der Schaffung der Sicherheitsbereitschaft zitieren. Stattdessen geht es den Verantwortlichen mutmaßlich um eine CO2-Sparmaßnahme dank einer vorzeitigen Außerbetriebnahme von Kohlekraftwerken, wie mittlerweile auch offener kommuniziert wird.
Mit dem Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung, welches den wahrlich nicht überhasteten Kohleausstieg bis 2038 vorsieht, wurde eine neue Regelung der Sicherheitsbereitschaft beschlossen. Auch im neuen Gesetz seien die Regelungen und ihre Entstehung wenig transparent, kritisieren Experten insbesondere angesichts der Summe: Mehr als vier Milliarden Euro zusätzlicher Kosten stehen für die Aufrechterhaltung der Sicherheitsbereitschaft aus abzuschaltenden Braunkohlekraftwerken im Raum.
Im Rahmen dieser "neuen" Sicherheitsbereitschaft sollen Blöcke des Kraftwerks Jänschwalde sowie ein Block des Kraftwerks Niederaußem in Betrieb gehalten werden. Diese Entscheidung sei weitgehend unabhängig von der objektiven Feststellung des tatsächlichen Bedarfs im Ernstfall getroffen worden, wie Ida Westphal, Juristin bei Client Earth Berlin, in der Fachpresse kritisiert. Sie erhebt ferner den Vorwurf, dass die Bundesregierung "unter dem Deckmantel der Versorgungssicherheit [...] eine Möglichkeit geschaffen habe, Braunkohlekraftwerke weiter zu vergolden, ohne dies Entschädigung nennen zu müssen".
Derzeit ist zudem fraglich, ob die getroffenen Regelungen dem europäischen Beihilferecht standhalten. Die EU-Kommission prüft, ob die Summen einer absehbaren, negativen Preisentwicklung des Braunkohlestroms angemessen sind und welche zusätzlichen Anreize eine Sicherheitsbereitschaft in dieser Ausgestaltung setzt.
Aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, setzt sich die Bundesregierung nun stärker für die Unabhängigkeit von russischen Gaslieferungen ein, um sich vor einem möglichen Stopp der Gaslieferungen zu wappnen. Braunkohlekraftwerke, die sich aktuell noch in der Sicherheitsbereitschaft befinden, sollen ab dem 1. Oktober 2022 in eine neue Versorgungsreserve überführt werden, um schneller bei Engpässen aushelfen zu können. Somit werden die Kraftwerke in Betriebsbereitschaft stehen, jedoch nicht am Strommarkt aktiv sein, um zusätzliche CO2-Emissionen nur im Notfall entstehen zu lassen. Weitere Informationen finden Sie hier.
Hinter der Bezeichnung „besondere netztechnische Betriebsmittel“, die im Frühjahr 2019 erstmals ausgeschrieben wurden, verbergen sich die in einer Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission zum Streitfall gewordenen Netzstabilitätsanlagen, auch Netzstabilitätsreserve genannt.
Die besonderen netztechnischen Betriebsmittel, de facto handelt es sich dabei um Gaskraftwerke mittlerer Größenklasse, dienen der Netzstabilisierung bei Unterspeisung und sollten ursprünglich durch die Netzbetreiber selbst errichtet und betrieben werden – ein klarer Verstoß gegen das Unbundling des Strommarktes zwischen Netz und Stromproduktion. §13k des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG), der diese Möglichkeit für die ÜNB vorsah, wurde daher am 13. Juni 2017 gekippt.
Die Normen für die Netzstabilitätsanlagen finden sich jetzt im neuen Absatz 3 zu § 11: Die Übertragungsnetzbetreiber sind nun lediglich berechtigt, „besondere netztechnische Betriebsmittel“ vorzuhalten, um die Sicherheit des Stromnetzes bei Ausfällen wiederherzustellen. Ausdrücklich wurde den ÜNB untersagt, selbst Anlagen zu errichten und zu betreiben: „Mit dem Betrieb besonderer technischer Betriebsmittel sind Dritte zu beauftragen.“
Zuvor hatte die Bundesnetzagentur den durch die vier Übertragungsnetzbetreiber vorgetragenen Bedarf von zwei Gigawatt an Netzstabilitätskapazität geprüft und auf 1,2 Gigawatt reduziert; der grundsätzliche Bedarf an Netzstabilitätsanlagen wurde jedoch bestätigt.
Die ÜNB beschaffen jetzt insgesamt 1.200 MW Wirkleistung, die in zwölf Lose je 100 MW aufgeteilt sind. Gebote können auf ein Los oder Lospakete innerhalb einer Losgruppe abgegeben werden. Das bezuschlagte Unternehmen muss garantieren, seine Anlagen innerhalb einer halben Stunde auf Volllast zu bringen und diese Volllast für mindestens 38 Stunden halten zu können. Die Gesamtbetriebszeit liegt bei mindestens 500 Stunden pro Jahr.
Die geforderten Parameter zur Lieferung der besonderen netztechnischen Betriebsmittel stehen nun in der Kritik, da sie durch die Losgröße von 100 MW in Verbindung mit der schnellen und langen Volllastanforderung viele dezentrale Energieerzeugungsanlagen von vorn herein ausschließen. Betroffen seien aufgrund der langen Mindesterbringungszeit insbesondere Stromspeicher, wie der Bundesverband der Energiewirtschaft (BDEW) federführend kritisiert. Die Losgröße von 100 MW schließe zudem die Teilnahme von zu- und abschaltbaren Lasten aus.
Schließlich kritisiert der BDEW, dass bei einer jährlichen Mindestbetriebsdauer von 500 Stunden nicht mehr von einer Notsituation, sondern von einem Normalfall zu sprechen sei. Der „Normalfall“, also die besonderen netztechnischen Betriebsmittel als de-facto Systemdienstleistung, müsse sich dann vollständig marktwirtschaftlichen Bedingungen stellen, wie es auch bei der Systemdienstleistung Regelenergie selbstverständlich sei. Eine Finanzierung der besonderen netztechnischen Betriebsmittel aus dem „regulierten Bereich“, gemeint sind die von jedem Stromnetznutzer zu bezahlenden Netzentgelte, ist aus der Sicht des BDEW nicht akzeptabel.
Die Expertenkommission „Energie der Zukunft – Kommission zum Monitoring Prozess“, bestehend aus Vertretern vier anerkannter Forschungsinstitute, hat in ihrer „Stellungnahme zum sechsten Monitoring-Bericht der Bundesregierung für das Berichtsjahr 2016“ die verschiedenen Strommarktreserven kritisch beurteilt. So sei die Begründung für die Einführung der einzelnen Reserven „nicht immer überzeugend“, der schlichte und kurze „Verweis auf die Versorgungssicherheit werde der Bedeutung des Themas nicht gerecht“, so die Experten.
Die Einführung der Kapazitätsreserve spreche den Bilanzkreisverantwortlichen implizit die Kompetenz ab, durch rechtzeitige Beschaffung der notwendigen flexiblen Kapazitäten selbst für ausgeglichene Bilanzkreise zu sorgen – obwohl dies insbesondere in Virtuellen Kraftwerken tägliche, gelebte Praxis ist. Zusätzlich nehmen die Kapazitätsreserve, die verlängerte Netzreserve und die Sicherheitsreserve wesentliche Anteile der konventionellen Energieträger aus dem freien Strommarkt: Anstelle sich marktwirtschaftlichen Bedingungen stellen zu müssen, werden die Reservekapazitäten über die Netznutzungsentgelte finanziert, deren Zusammensetzung nicht nur laut den Experten der Agora Energiewende intransparent ist.
Zusammengefasst widerspricht die Einführung der zahlreichen Reserven nach Auffassung der Expertenkommission „grundsätzlich der Idee des Energy-Only-Marktes und der Entflechtung von Netzbetrieb und Erzeugung“ und somit eines im Weißbuch der Energiewende festgelegten Weges, der den Strommarkt der Energiewende erst möglich gemacht hat.