Seit Beginn der Coronakrise sind sie für Stromhändler fast alltäglich geworden: Wir möchten in diesem Blog erklären, wie negative Strompreise entstehen und warum sie durchaus auch positiv gesehen werden können.
Stellen Sie sich vor Sie tanken Ihr Auto voll, betreten mit einem nonchalanten „Die Fünf bitte!“ das Kassenhäuschen und bekommen 20 Euro ausbezahlt. Reine Utopie? Am 20. April 2020 rutschte der Kontraktpreis für WTI-Öl erstmals seit Jahrzehnten kräftig in den negativen Bereich. Käufer eines Fasses Rohöl hätten also statt der Abbuchung des Kaufpreises 40 US-Dollar auf ihr Konto erhalten. Die Realität ist jedoch, wie immer, ein wenig komplexer: Der negative Preis schlug sich natürlich nicht sofort der Zapfsäule durch, auch Heizöl wird nicht „mit Aufpreis“ verschenkt, sondern nach wie vor verkauft. Der Ölpreis hat sich inzwischen auch wieder stabilisiert – was vor allem an handelspolitischen Abkommen und nicht an einem gestiegenen Ölverbrauch liegt.
Negative Preise sind auf dem Ölmarkt ein pressebeachtetes Jahrhundertereignis, auf dem Strommarkt des 21. Jahrhunderts hingegen ein wiederkehrendes Phänomen: Sie treten, nicht nur in Pandemiezeiten, regelmäßig auf. Doch wie kommt es zu negativen Strompreisen und haben diese ausschließlich negative Folgen? Wie können negative Preisentwicklungen verhindert werden und ist diese Verhinderung überhaupt immer wünschenswert? Viele Fragen, denen wir in diesem Blog ein wenig auf den Grund gehen wollen.
Jeder von uns lernt in der Schule, dass ein marktwirtschaftliches System und insbesondere die Preisbildung auf einer Wechselwirkung zwischen Angebot und Nachfrage beruht. Gerne werden als Beispiel Äpfel oder Birnen bemüht: Ist die Ernte gut, sind die Früchte günstig – schlechte Ernten lassen hingegen die Obstpreise steigen. Äpfel und Birnen lassen sich allerdings, anders als elektrischer Strom oder Rohöl in weltmarktrelevanten Mengen, relativ lange lagern und über einen längeren Zeitraum abverkaufen – beispielsweise dann, wenn durch höhere Nachfrage oder geringere Obstmengen im Markt die Preise wieder steigen.
Elektrischer Strom hingegen muss in dem Moment, wo er erzeugt wird, bereits verbraucht werden. Abgesehen von einigen, im Vergleich zu Stromerzeugung und Verbrauch sehr geringen Speicherkapazitäten, ist Strom im Stromnetz nicht lagerfähig. Erzeugung und Verbrauch müssen daher möglichst genau prognostiziert, Abweichungen von diesen Prognosen müssen dann mit Regelenergie ausgeglichen werden. Bei einer kurzfristigen, unerwarteten Überversorgung mit Strom rufen die Übertragungsnetzbetreiber daher negative Regelenergie ab: Stromerzeuger schalten ab, große Verbraucher fahren hoch, hierfür werden sie auf dem Regelenergiemarkt entschädigt.
Diese und andere Faktoren führen dazu, dass der Strompreis sich bei Überangeboten sehr schnell abwärts bewegt, sowohl in der Auktion am Day-Ahead-Markt als auch in der Intraday-Auktion und im kontinuierlichen Intradaymarkt. Eine Überproduktion von Strom kann also in kürzester Zeit zu negativen Strompreisen führen – doch wie entstehen diese überhaupt?
Ein Überangebot an Strom entsteht immer dann, wenn mehr Strom erzeugt wird, als verbraucht werden kann. Logisch wäre es also, sofort die Erzeugung zu drosseln, in extremen Fällen ganz zu stoppen oder große Stromverbraucher zu aktivieren. Leider ist dies in einem so komplexen Gebilde wie dem Stromsystem alles andere als einfach: Die Übertragungsnetzbetreiber als Hüter des deutschen Stromnetzes haben nicht den „einen dicken Hebel“, mit dem sie Stromerzeuger einfach drosseln oder abstellen können. Vielmehr müssen viele Abschalt- oder Drosselungsbefehle wohlkoordiniert an kleine und große Erzeugungsanlagen gesendet werden.
Diese werden zwar in Sekundenschnelle übertragen – aber die Erzeugungsanlage muss auch Zeit zum Reagieren haben. Im Falle eines Großkraftwerks in Volllast kann dieser Bremsweg einige Viertelstunden lang sein, Windkraftwerke müssen ihre Flügel in Segelstellung bringen und aufhören zu rotieren, Schwungmassen in BHKWs und Turbinen auslaufen. Hinzu kommen noch Anforderungen aus den Eigenarten der Netztopologie: Unter- und Überversorgungen treten nie gleichmäßig im ganzen Stromnetz auf, radikale Abschaltungen regionaler Netzteile verbieten sich aufgrund der Versorgungssicherheit: „Lieber ein paar Stunden negative Preise als Blackout im Ruhrgebiet“ könnte man als stark vereinfachte, aber treffende Faustregel ableiten.
Negative Strompreise sind also kein Ausdruck von Marktversagen, sondern im Gegenteil Ausdruck eines funktionierenden Stromsystems: Sie sind zwar für die Anlagenbetreiber ärgerlich – für das System als Ganzes jedoch normal. Denn der Preis ist, nüchtern betrachtet, lediglich das Signal für das Verhältnis von Angebot und Nachfrage und muss keine hektischen Aktionen nach sich ziehen: In einem funktionierenden Markt entscheidet sich der Stromerzeuger bewusst, ob er für einen negativen Preis X produzieren möchte oder eben nicht. Bemerkenswert sind negative Strompreise jedoch, wenn sie zu ungewöhnlichen Zeiten und in ungewöhnlichen Situationen auftreten – womit wir im Jahr 2020 mit einem hohen Angebot und niedriger Nachfrage durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind.
Im Frühjahr 2020 haben Deutschland und fast die gesamte Welt eine historisch nie dagewesene, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vollbremsung hingelegt. Ab etwa Mitte März kam hierzulande das wirtschaftliche und gesellschaftliche, öffentliche Leben fast vollständig zum Erliegen. Deutschland schloss sich zuhause ein und während den Internetleitungen für das heimische Videostreaming Höchstleistungen abverlangt wurden, fiel der Stromverbrauch von Produktionsbändern, Rechenzentren, Restaurantherden, Büros und unzähligen anderen großen und kleinen Verbrauchern auf null.
Die Stromerzeugungsanlagen hingegen, zumindest im Bereich der Erneuerbaren Energien seit Jahrzehnten weitgehend automatisiert oder sogar autonom agierend, produzierten weiter Strom und reagierten auf diesen historisch nie dagewesenen Verbrauchsrückgang. Um die Versorgungssicherheit zu erhalten, wurde kontrolliert heruntergefahren und maßvoll abgeschaltet. Doch auch diese systembedingten Verzögerungen erklären noch nicht vollumfänglich die negativen Strompreise im April 2020.
Denn speziell für die Erneuerbaren Energien war die Zeit um die Ostertage außerordentlich ertragreich: Sehr sonnig, sehr windig, keine Wolke am Himmel – über Wochen erlebte Deutschland, vorwiegend freilich durchs Wohnzimmerfenster betrachtet, einen ausgesprochen sonnigen und trockenen April.
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Der Börsenstrompreis, aber auch der Ölpreis als Fieberkurve der Gesellschaft? Bei einer näheren Betrachtung der Strommarktdaten, nicht nur aus diesem Jahr, muss man dieses Modell wohl ablehnen – so schön es auch für Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Journalisten wäre. Speziell der Strompreis basiert jedoch auf so vielen verschiedenen Faktoren, dass eine monokausale Betrachtung (der Verbrauch ist weggebrochen) keine vollständige Erklärung ergibt.
Hinzu kommt, sowohl beim Strom- als auch beim Ölpreis, dass die vielfältigen Steuern und Abgaben auf die Kilowattstunde oder den Liter erst mit großer Verzögerung und stark gedämpft auf die Strom- und Tankrechnung „durchschlagen“. Auch 2020 ist Energie, egal ob erneuerbar oder fossil erzeugt, nicht umsonst und kostbar. Eine längere konjunkturelle Durststrecke, wie sie nicht nur uns nach dem globalen Shutdown sehr wahrscheinlich erscheint, wird die Energienachfrage auch langfristig nicht rapide ansteigen lassen.
Bis auf negative Strompreise hat die Coronakrise aber keine wirklich negativen Auswirkungen auf den Strommarkt oder das Stromsystem als Ganzes gezeigt – es hat sich, zumindest gegen die Folgen einer globalen Pandemie, bisher als resilient erwiesen. Dies liegt nicht zuletzt an den außergewöhnlichen Anstrengungen der Übertragungsnetzbetreiber und Verteilnetzbetreiber für die Sicherstellung der Versorgungssicherheit. Ebenso hat die Etablierung und Durchsetzung der KRITIS-Richtlinien zur Sicherung einer zuverlässigen Funktion von kritischer Infrastruktur einen wesentlichen Teil zur derzeitigen, positiven Situation beigetragen. Wenn der Preis hierfür nur einige negative Strompreisstunden sind, können wir die Krise, zumindest aus der Perspektive des Energiemarktes, volkswirtschaftlich gut überleben.
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