Als Merit-Order bezeichnet die Energiewirtschaft die Einsatzreihenfolge der stromproduzierenden Kraftwerke auf einem Stromhandelsplatz, um die wirtschaftlich optimale Stromversorgung zu gewährleisten. Die Merit-Order orientiert sich an den niedrigsten Grenzkosten, also der (Betriebs-) Kosten, die bei einem Kraftwerk für die letzte produzierte Megawattstunde anfallen. Diese variablen Kosten sind zumeist die Brennstoffkosten konventioneller Kraftwerke. Die Merit-Order ist darum unabhängig von den Fixkosten einer Stromerzeugungstechnologie – so sind die Bau- oder Rückbaukosten eines Kraftwerks für die Einsatzreihenfolge im Rahmen des Merit-Order-Prinzips irrelevant. Die Kraftwerke, die fortlaufend sehr preisgünstig Strom produzieren, werden gemäß der Merit-Order als erstes zur Einspeisung zugeschaltet. Danach werden so lange Kraftwerke mit höheren Grenzkosten hinzugenommen, bis die Nachfrage gedeckt ist.
Bei der Merit-Order handelt es sich um ein mögliches Beschreibungsmodell eines funktionierenden Strommarkts. Die Annahme hinter diesem Modell ist, dass Kraftwerksbetreiber immer ihre Kosten für die nächste produzierte Megawattstunde decken wollen, sonst würden sie sie nicht produzieren. Kraftwerke mit niedrigen Grenzkosten können also einen niedrigeren Preis für ihren Strom bieten und werden damit öfter bezuschlagt als Kraftwerke mit höheren Grenzkosten. Die Merit-Order versucht also zu erklären, wie die Preisbildung auf dem liberalisierten Strommarkt funktioniert; sie ist kein Gesetz oder sonstige regulatorische Vorgabe, die den Kraftwerkseinsatz koordiniert.
An der Strombörse ergeben sich die Börsenpreise aus der Schnittstelle von Angebot und Nachfrage. Der sogenannte Market-Clearing-Price (MCP) bzw. Markträumungspreis ist das letzte Angebot, welches einen Zuschlag erhält. Das Kraftwerk mit den teuersten Grenzkosten – das Grenzkraftwerk – definiert den Börsenpreis für alle eingesetzten Kraftwerke. Die Energiewirtschaft bezeichnet diesen Preisbildungsmechanismus als „uniform pricing“ oder „pay as cleared“ (zu deutsch „Einheitspreis“ oder „Markträumungspreis“), da alle Kraftwerke denselben Preis für ihre Einspeisung ausgezahlt bekommen, auch wenn sie zuvor unterschiedliche Preise geboten haben.
Sofern Kraftwerke in der Lage sind, einen niedrigeren Preis als den des Grenzkraftwerkes anzubieten, können diese einen Überschuss einfahren. Diese Marge, der Deckungsbeitrag, gleicht die eigenen Fixkosten aus.
Innerhalb der Merit-Order verschieben dauerhaft sinkende Stromproduktionskosten die herkömmliche Kraftwerksreihenfolge. Ein solcher Effekt lässt sich zurzeit insbesondere durch die wachsende Einspeisung Erneuerbarer Energien (Photovoltaik, Windenergie, Biomasse) beobachten. Fluktuierend einspeisende Photovoltaik- und Windkraftwerke weisen Grenzkosten nahe bei Null auf, da sie keine Brennstoffkosten wie etwa Kohle- oder Gaskraftwerke haben. Sie stoßen in den Markt vor und verdrängen konventionelle Spitzenlastkraftwerke, etwa Gaskraftwerke, in der Merit-Order weit nach hinten. Die Energiewirtschaft bezeichnet dieses Phänomen als Merit-Order-Effekt (MOE) der Erneuerbaren Energien. Nur die Residuallast – den verbleibenden Strombedarf, den die Erneuerbaren Energien nicht decken können – müssen konventionelle Kraftwerke nach wie vor ausgleichen.
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Bei dem Merit-Order-Modell handelt es sich um ein statisches Beschreibungsmodell, das für die Darstellung der kurzfristigen Strompreisbildung, insbesondere an Spotmärkten, gut geeignet ist. Um die langfristige Entwicklung von Strompreisen kalkulieren zu können, bedarf es jedoch eines modifizierten Strommarktmodells, das langfristige Effekte berücksichtigt. Ein solches Strommarktmodell bezieht die Einsatz-, Zubau- und Stilllegungsentscheidungen der Anlagenbetreiber mit ein und berücksichtigt auch die Fixkosten. Schließlich wird kein Kraftwerksbetreiber mehr Kraftwerke bauen, wenn mit dem Stromverkauf nur die Grenzkosten gedeckt werden könnten (siehe Missing-Money-Problem). Die enorm hohen Investitions- und Rückbaukosten von Atomkraftwerken bilden sich im Merit-Order-Modell nicht korrekt ab – ebenso wenig wie realen Umweltfolgekosten von Kohle- oder Gaskraftwerken oder die die tatsächlichen Gesamtkosten der Erneuerbaren Energien.
Im Fokus des Merit-Order-Modells steht außerdem die Stromvermarktung über die Spotbörse – was aber nicht immer der Fall ist. Denn ein großer Teil des Stromhandels erfolgt nicht über den kurzfristigen Stromhandel an der Spotbörse, sondern über OTC-Verträge, Power Purchase Agreements (PPA) und den Terminhandel. Der Einfluss des Merit-Order-Prinzips auf die Preisbildung bei diesen langfristigen Kontrakten ist womöglich gegeben, jedoch auf abgeschwächte, indirekte und schwer zu quantifizierende Weise.
Festzuhalten bleibt, dass das Merit-Order-Prinzip keineswegs gleichzusetzen ist mit dem Begriff des Strommarktdesigns insgesamt – ersteres ist lediglich eine Teilmenge des zweiteren. Denn viele weitere Einflussfaktoren wirken auf die Preisbildung von Strom, von Subventionen für fossile und erneuerbare Kraftwerke über Steuern und Abgaben bis hin zu den erwähnten langfristigen Stromkontrakten.
In den letzten Jahren geriet das Merit-Order-Prinzip in der energiewirtschaftlichen Debatte – und teilweise sogar darüber hinaus – häufig in den Fokus. Dabei spielt ein strukturelles Problem von liberalisierten Strommärkten ohne Kapazitätsmechanismen (bei denen zusätzlich zur produzierten Energie die reine Vorhaltung von Stromerzeugungskapazitäten finanziell entlohnt wird) eine Rolle, das sogenannte Missing-Money-Problem.
Mit dem Missing-Money-Problem ist die Situation gemeint, in die Stromerzeuger geraten können, wenn sie aufgrund eigener hoher Grenzkosten in der Merit Order strukturell nicht mehr oder sehr selten zum Zuge kommen und somit ihre Fixkosten nicht mehr einspielen können. Sind keine weiteren Einkünfte, etwa aus Kapazitätsmechanismen oder aus Subventionen, verfügbar, fehlen daher die Anreize für den Neubau von Kraftwerkskapazitäten, die voraussichtlich selten zum Einsatz kommen werden. Es fehlt schlichtweg an Geld oder an Aussicht darauf, um eine positive Investitionsentscheidung zu treffen („Missing Money“). Dies betrifft vor allem Gas-Peaker, also Gaskraftwerke, die am Ende der Merit Order stehen und für die Spitzenlastabdeckung genutzt werden. Auch hier gilt erneut: Das Merit-Order-Prinzip ist nicht die Ursache des Problems, sondern lediglich ein adäquates Modell, um den Sachverhalt zu beschreiben, denn in einem Energy-Only-Markt ist die Refinanzierung von Fixkosten über Preisspitzen am Ende der Merit Order durchaus einberechnet.
Mit der Energiekrise im Zug des russischen Überfalls auf die Ukraine erreichten die Diskussionen um das Merit-Order-Prinzip schließlich regelmäßig die Abendnachrichten. Denn das Hochschießen der Strompreise in den Jahren 2021 und 2022 ließ sich anhand des Merit-Order-Modells sehr gut erklären. Astronomisch gestiegene Preise für Erdgas trieben den Grenzkostenpreis der Gaskraftwerke, die häufig für die Abdeckung der Spitzenlast genutzt werden, in teils exorbitante Höhen. Dies wiederum führte dank des Uniform Pricings zu einer starken Anhebung des allgemeinen Preisniveaus über mehrere Monate hinweg (zusätzlich zum Produktionsausfall französischer Atomkraftwerke), da nun alle Stromproduzenten ein Vielfaches für die von ihnen produzierte Elektrizität erhielten, auch wenn ihre Betriebskosten gar nicht von den gestiegenen Erdgaspreisen beeinflusst wurden. Der Öffentlichkeit wurde schmerzhaft klar, dass nach wie vor die Brennstoffkosten fossiler Kraftwerke den Strompreis bestimmen können.
Insbesondere die massiv erhöhten Strompreise im Jahr 2022 sorgten für eine rege Diskussion um das Merit-Order-Prinzip. Auch in der Politik kam das Thema der Preisfindung an den Strommärkten nun verstärkt auf die Agenda, resultierend etwa in Bemühungen auf EU-Ebene, durch eine Strommarktreform den Strompreis vom Gaspreis zu entkoppeln.
Eine Möglichkeit, dies zu bewerkstelligen, liegt in der Abschaffung des Uniform Pricings und der Anwendung des Pay-as-Bid-Prinzips, bei dem Produzenten genau den Preis erhalten, zu dem sie die von ihnen produzierte Elektrizität am Markt anbieten. Der Wegfall des markträumenden Preises würde den Gaspreis auf den ersten Blick schlagartig vom Strompreis entkoppeln. Jedoch bleiben hier viele Fragen offen: Wie würden Produzenten zukünftig in den Markt bieten? Würden sie strukturell höhere Preise bieten, um den Preis des Grenzkraftwerks zu antizipieren? Würde das Pay-as-Bid-Prinzip daher vielleicht sogar noch höhere Preise nach sich ziehen als das Uniform Pricing? Die Abschaffung des Uniform Pricing weist daher viele Unwägbarkeiten in Bezug auf das erwartete Bieterverhalten auf und gilt daher als durchaus riskant.
Ein anderer Vorschlag, der einige Unterstützer im politischen Brüssel hat, zielt auf eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Stromerzeugertypen ab. Während Solar-, Windkraft-, Wasserkraft- und auch Atomkraftwerke vergleichsweise niedrige bzw. nichtexistente Brennstoffkosten – oder allgemeiner Betriebskosten – aufweisen, wird diskutiert, ob diese grundsätzlich nach Differenzverträgen vergütet werden sollten und nicht mehr nach dem Merit-Order-Prinzip. Dadurch würde ein Großteil des erzeugten Stroms nicht mehr über einen Einheitspreis bepreist, der faktisch heute an den Gaspreis gekoppelt ist, während Kraftwerke mit konventionellen Brennstoffen, eben Gas-, Steinkohle-, Braunkohle- und Erdölkraftwerke weiterhin im bekannten Preisregime verblieben.
Weitere Alternativen etwa nach US-amerikanischem Vorbild wie das Nodal Pricing oder staatlich festgesetzte Erzeugerpreise werden hingegen bisher nicht wirklich ernsthaft diskutiert. Insbesondere staatlich festgelegte Strompreise würden der Liberalisierung der europäischen Strommärkte diametral widersprechen.
Hinweis: Next Kraftwerke übernimmt keine Gewähr für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität der Angaben. Der vorliegende Beitrag dient lediglich der Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung.