Über Jahrzehnte war der Energiewende-Diskurs geprägt von einem „das geht nicht.“ Wer – wie wir – vor 10 Jahren auf Konferenzen das Ziel formulierte, die komplette Energieerzeugung auf Erneuerbare Energien umstellen zu wollen, erntete höchstens ein müdes Lächeln. Heute geht es längst nicht mehr um das „ob“, sondern nur noch um das „wie“ und vor allem das „wann“. Die technischen Möglichkeiten sind da – ebenso wie ein gesellschaftlicher und branchenweiter Konsens, wohin die Reise gehen muss. Denn nicht nur der fortschreitende Klimawandel, auch die Energiekrise hat uns vor Augen geführt, wie problematisch die Abhängigkeit von fossilen Energien tatsächlich ist.
Das Ziel ist klar: Ausschließlich kohlenstofffreie Quellen versorgen die morgige Gesellschaft mit sauberer, günstiger und größtenteils heimischer Energie. Der dominierende Energieträger ist Strom – eine All-Electric-Society, in der Stromausfälle genauso wenig vorkommen wie bei uns heute. Auch der sorgenfreie Konsum von Energie, der in den nächsten Jahren notgedrungen und preis- sowie klimabedingt eingeschränkt sein wird, ist wieder gesellschaftlich akzeptabel. Denn grüner Strom wird in großen Mengen und zu günstigen Preisen zur Verfügung stehen, so dass sich beim Anschalten der Klimaanlage, beim Einstieg ins Flugzeug oder beim Durchdrücken des Strompedals kein schlechtes Gewissen mehr einstellt. Schon 2040, vielleicht sogar früher könnte diese neue Energiewelt Wirklichkeit werden.
Die Realisierung dieser Energiezukunft ist allerdings kein Selbstläufer. Sie erfordert ein Update des Marktdesigns, das mit der Schnelligkeit der Veränderungen um uns herum mithält – der rasanten Zunahme von E-Autos auf unseren Straßen, PV-Anlagen, die auf den Dächern sprießen oder Neubauten, die heute überwiegend mit Wärmepumpen ausgestattet werden. Viele dieser Fortschritte sind technologischer Natur und erst einmal unabhängig von Regulatorik und Marktdesign. Doch wie immer ist alles in der Energiewirtschaft miteinander verwoben. Denn die Spielregeln für Stromerzeuger und Stromverbraucher kommen mit der neuen Komplexität und Geschwindigkeit nicht mehr mit. Es erscheint ein wenig wie der Versuch, die neueste Version von Super Mario Kart auf einer Konsole von 2010 zu spielen.
Was ist denn nun zu tun, um das neue Energiesystem endgültig auf die Straße zu bringen? Welche sind die größten Baustellen des Strommarktdesigns, die sich der Energiewirtschaft im Jahr 2023 stellen?
Anreize für den Neubau von Solar- und Windkraftanlagen sind heute ausreichend gegeben, da zum einen das EEG weiterhin die Basis für ein langfristiges Return on Investment legt, indem es einen Mindestpreis für jede Kilowattstunde aus neu gebauten Anlagen garantiert, zum anderen, weil Solar- und Windkraftanlagen zunehmend außerhalb der EEG-Förderung gebaut und anschließend über den freien Strommarkt refinanziert werden. Was aber ist mit Kraftwerken, deren Grenzkosten nicht so gering sind und die entsprechend weniger häufig genutzt werden? Wo soll das Geld herkommen, um solche Kraftwerke zu refinanzieren? An dieser Stelle teilt sich die deutsche Energiewirtschaft seit vielen Jahren in zwei Lager. Das eine befürwortet den bestehenden Energy-Only-Markt, der nur tatsächlich produziertem Strom einen Wert zuweist. Das zweite favorisiert einen Kapazitätsmarkt, bei dem zusätzlich zur Bepreisung der produzierten Megawattstunde eine Bepreisung der vorgehaltenen Kapazität – des Megawatts sozusagen – stattfindet, um das Missing-Money-Problem zu lösen.
Schon heute ist an wind- und sonnenreichen Tagen zu beobachten, dass die Strompreise äußerst sensibel auf eine hohe Einspeisung von Solar- und Windstrom reagieren: Sie fallen. Erst wenn Windkraft und Photovoltaik im Tages- oder Wochenverlauf weniger Strom produzieren, steigen die Preise wieder. Aufgrund der geringen Einsatzkosten von Solar- und Windstrom – Sonne und Wind sind kostenlos – machen sich Wind- und Solaranlagen ihre eigenen Preise kaputt, könnte man überspitzt sagen. Wenn sie viel Strom produzieren, verdienen sie im Vergleich zum Durchschnitt aller anderen Energieträgern also pro Megawattstunde weniger, was wunderbar an dem Unterschied zwischen den Marktwerten für Solar und Wind auf der einen Seite und den Marktwerten für Bioenergie und Wasserkraft auf der anderen Seite abzulesen ist. Momentan sorgen das extrem hohe allgemeine Strompreisniveau und die gesetzliche Förderung Erneuerbarer Energien dafür, dass dieser Trend nicht sonderlich ins Gewicht fällt. Sollte sich diese Dynamik der Kannibalisierung aber eines Tages wieder in einem nichtsubventionierten, niedrigpreisigeren Marktumfeld voll entfalten, kommen wir schnell an einen Punkt, an dem sich auch für Solar- und Windkraftanlagen die Frage der Refinanzierung stellt. Die Kannibalisierung wird umso drastischer, je mehr Windräder und Solaranlagen ans Netz angeschlossen werden.
Damit zu jeder Sekunde des Tages der Strom aus unseren Steckdosen fließt, wenn wir die Leselampe anknipsen, ist ein gewaltiges System im Hintergrund nötig, das diesen Strom nicht nur produziert, sondern auch zuverlässig zu uns liefert. Auf dem Weg müssen Spannung und Frequenz des Stromflusses gehalten werden, damit es zu keiner Versorgungsunterbrechung kommt. Bisher lieferten konventionelle Kraftwerke die Blindleistung, die Momentanreserve sowie die benötigten Mengen an Regelleistung. All dies muss zunehmend und schlussendlich vollständig von Cleantech-Lösungen übernommen werden. Auf technischer Ebene sind die Punkte weitestgehend gelöst: Blindleistung kann von Kompensatoren bereitgestellt werden sowie von Erneuerbaren Energien selbst; auch können rotierende Massen über Synchrongeneratoren oder virtuelle Momentanreserve ersetzt werden, eventuell sogar von Verbrauchern. Im Bereich Regelleistung zeigen Virtuelle Kraftwerke schon seit Jahren, dass sie in der Lage sind, vernetzte Erneuerbare Energien, Batteriespeicher und Stromverbraucher so einzusetzen, dass die Netzfrequenz zuverlässig bei 50 Hertz ausgeregelt ist. Was fehlt ist nach wie vor ein überzeugender Plan für den flächendeckenden Rollout dezentraler flexibler Einheiten und intelligenter Stromzähler, für den vollständigen technologischen Wechsel von den bestehenden konventionellen Ressourcen zu den Cleantech-Alternativen. Auch die Frage, wie die einzelnen Systemdienstleistungen in Zukunft vergütet werden, ist noch nicht zufriedenstellend geklärt.
Beim Schwankungsausgleich in der kurzen Frist – innerhalb von Viertelstunden, Stunden und Tagen – haben wir in den letzten Jahren wie erwähnt viele Fortschritte gesehen. Ein Problem aber bleibt beim Thema Netzstabilität weiterhin: Wenn über längere Zeiträume weder Wind weht noch Sonne scheint, muss die Stromversorgung sichergestellt sein. Das oft und emotional diskutierte Thema der Dunkelflaute. Auch wenn das Problem, wie mehrfach untersucht, nicht derart dramatisch ausfallen wird wie befürchtet (bei Agora Energiewende können Sie zukünftige Dunkelflauten auf Basis historischer Wetterdaten wunderbar visualisieren), ist es doch Fakt, dass es immer wieder Tage oder gar Wochen geben wird, während derer über 50 Gigawatt an fehlender Solar- und Windeinspeisung ersetzt werden müssen, um den Stromverbrauch zu decken. Experten weisen zurecht auf die vielfältigen Lösungen hin, von der Flexibilisierung des Verbrauchs über europaweite Ausgleichseffekte in einem zukünftig engmaschiger vernetzten transkontinentalen Stromverbund bis hin zu Wasserstoffkraftwerken. Doch so richtig entspannt wirken wenige Marktteilnehmer bei dem Thema. Hier muss ein klarer Weg eingeschlagen werden, der Sicherheit schafft.
Das Problem ist altbekannt: Ersetzen wir zentrale Großkraftwerke durch dezentrale Erzeuger, müssen wir auch den Stromtransport neu organisieren. Die bisherige Antwort lautet Kupfer. Die Netzbetreiber bauen neue Stromleitungen, zunehmend auch zur transnationalen Vernetzung der bestehenden Stromsysteme. Das ist sicherlich gut und richtig, aber die denkbaren positiven Effekte eines Marktdesign-Upgrades im Bereich Stromtransport, die auch ohne den Bau neuer Stromleitungen eintreten können, werden zu häufig ignoriert. Antiquierte Regelungen bei der Befreiung von Stromverbrauchern von den Netzentgelten, etwa bei den Höchstlastzeitfenstern oder der 7000h-Regel, behindern oftmals eine Flexibilisierung des Stromverbrauchs. Diese hätte wiederum positive Effekte auf die Erhöhung des Anteils lokal produzierter und verbrauchter Energie und entlastete die Stromnetze. Ähnliches gilt für die Diskussion um Preiszonen, die ebenfalls ein lokales oder regionales Matching von Angebot und Nachfrage ermöglichen könnten, oder für den Einsatz bestehender lokaler Flexibilitäten auf Erzeugerseite, auf der nun mit dem Redispatch 2.0 immerhin ein erster Schritt gegangen wurde, und auf Verbraucherseite, wo lokale Energiegemeinschaften nicht wirklich in Schwung kommen. Im Jahr 2020 wurden übrigens über 6000 Gigawattstunden an Windstrom über das Einspeisemanagement der Netzbetreiber abgeregelt, weil sie nicht über das Stromnetz abtransportiert werden konnten. Das ist der vierfache Stromverbrauch einer Stadt wie Regensburg. Ein Masterplan, die bestehenden Stromleitungen durch intelligente Schaltungen und eine Erhöhung des lokalen Eigenstromverbrauchs zu entlasten, gibt es bislang nicht.
Ein zentrales Gebot des zukünftigen Energiesystems schält sich immer mehr heraus. Wir müssen aufhören, CO2-Emittenten zu verbrennen. Das Verbrennungszeitalter mag heute auf seinem Höhepunkt sein, doch sein Ende ist bereits absehbar. Die Welt wird elektrisch. Während diese Entwicklung in manchen Bereichen schon sichtbarer wird, etwa bei PKWs oder bei der Beheizung von Neubauten, hat sie in anderen Bereichen noch gar nicht richtig begonnen, etwa in der Landwirtschaft, dem Flugverkehr oder der Industrie. Der Strombedarf wird naturgemäß steigen, doch gibt es bei dieser Transformation, zumal im Transportsektor, eine Effizienzdividende: Strombetriebene Systeme haben weniger Wirkungsgradverluste als Systeme, die auf Verbrennung basieren und entsprechend hohe Wärmeverluste aufweisen. Ein E-Golf benötigt weniger als 20 kWh für 100 Kilometer Fahrt. Ein herkömmlicher Benziner hingegen rund 60 kWh. Hinzu kommt eine zweite Dividende: Durch die Vielzahl an verschiedenen Systemen, die alle auf Elektrizität basieren, wird deren Kombination erleichtert. Doch auch hier fehlt noch eine in Regeln gegossene Vision: Heute ist es noch nicht einmal möglich, die in einer Autobatterie gespeicherte Energie zurück ins Stromnetz einzuspeisen.
In einem durch Unbundling liberalisierten Strommarkt sind Preissignale vielleicht das zentrale Werkzeug des Marktdesigns. Preise geben diskriminierungsfreie Anreize für Effizienz, für Innovation und für Investition. Trotzdem litt dieses System in den letzten Jahren darunter, dass zu viele Anteile am Strompreis fixiert waren (Steuern, EEG-Umlage, Netzentgelte) und blieb daher von Marktschwankungen unbeeindruckt. Nur ein verhältnismäßig kleiner Anteil des Endkundenstrompreises wurde überhaupt marktlich ermittelt, grob gerechnet ein Sechstel. Die volle Kraft eines Marktpreises, der Investitionen lenkt, konnte sich so nicht entwickeln – sehen wir einmal von den wohl temporären Umwälzungen in der Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ab. Hinzu kommt, dass externalisierte Kosten bei der konventionellen Stromerzeugung niemals Teil des Preisgefüges waren, seien es Kosten für die Endlagerung von Atommüll oder CO2-Folgekosten. Daher ist der marktlich ermittelte Preis für Strom zwar heute das beste verfügbare Werkzeug im Strommarkt, aber noch immer weit davon entfernt, die gewünschte Lenkungswirkung zu entfalten.
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Für alle diese Baustellen einen Sanierungsplan zu erstellen, würde den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengen. Was aber deutlich wird: Allein die Sektorenkopplung bietet uns die große Chance, viele der oben genannten Probleme übergreifend anzugehen. Wir können uns die Energiezukunft als maximal vernetzt vorstellen. Alle Erzeugungskapazitäten, insbesondere aber natürlich Flexibilitätspotentiale, werden sektorenübergreifend zu nutzen sein, um das Energiesystem möglichst effizient zu gestalten. So können Elektrofahrzeuge nicht nur lokale Netzspitzen abfedern, sondern auch Flexibilität für den Strommarkt bereitstellen. So können überschüssige Strommengen, die heute im Rahmen des Einspeisemanagements abgeregelt werden, für die lokale Produktion von Wasserstoff genutzt werden, der uns wiederum über Dunkelflauten hinweghelfen wird. So wird ein europäisches Stromnetz nicht nur für transkontinentale Ausgleichseffekte sorgen, sondern auch preisdämpfend wirken. So wird eine Flexibilisierung der Netzentgelte nicht nur dazu führen, dass der maximale Preisanreiz beim Verbraucher ankommt, sondern auch dazu, dass weitere Investitionsanreize für eine Erhöhung der Eigenstromversorgung gesetzt werden.
Lassen Sie uns diese Transformation mit dem nötigen Schwung angehen. Denn Baustellen sind dazu da, bearbeitet zu werden.
Hinweis: Next Kraftwerke übernimmt keine Gewähr für die Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität der Angaben. Der vorliegende Beitrag dient lediglich der Information und ersetzt keine individuelle Rechtsberatung.
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