Bisher ist die Bereitstellung von Flexibilität in Deutschland auf zwei Ebenen organisiert: Entweder auf nationaler und marktlicher Ebene über den Energy Only Markt der Strombörse sowie den Regelenergiemarkt oder auf lokaler Ebene durch nichtmarktliche Eingriffe der Netzbetreiber über das Einspeisemanagement und den Redispatch. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Deutschland hat weltweit eines der sichersten – und dabei noch zunehmend sicheren – Stromversorgungssysteme, wie der SAIDI-Index zuletzt erneut darlegte. Und dies bei einem Anteil von um die 50% Erneuerbare Energien im Stromsystem.
Warum also daran etwas ändern? Zwei Gründe stechen hervor, warum das heutige System zwar vom Ergebnis her betrachtet hervorragend ist, aber trotzdem angepasst werden muss:
Was geschieht also momentan, um Flexibilität aus dezentralen Cleantech-Technologien auch auf den unteren Netzebenen verstärkt einzusetzen? Zum einen wird zum Oktober 2021 das heutige System des Einspeisemanagements und des Redispatchs im Rahmen des sogenannten „Redispatch 2.0“ vereinheitlicht und unter Einbeziehung der Erneuerbaren Energien auf neue Beine gestellt. Zum anderen haben Netzbetreiber verschiedene Pilotprojekte aufgesetzt, um zu testen, inwieweit dezentrale Technologien der Stromerzeugung, der Stromspeicherung und des Stromverbrauchs über einen Marktansatz zur Auflösung von lokalen Netzengpässen herangezogen werden können. Eines dieser Pilotprojekte ist die Plattform ENKO, oder besser „ENergien intelligent KOordiniert“, des Netzbetreibers SH Netz.
Über eine Plattform, an die verschiedene Technologien angebunden sind, werden Angebote für Bereitstellung von Flexibilität – also zur kurzfristigen Anpassung des eigenen Stromverbrauchs oder der eigenen Stromproduktion – gesammelt. Die im Projekt beteiligten Netzbetreiber wählen anschließend die günstigste und effizienteste Maßnahme aus, um einen lokalen Netzengpass aufzulösen, bevor es zur Abregelung von Erneuerbaren Energien über das Einspeisemanagement kommt. Der Flexibilitätsanbieter wird von der Plattform über seinen Zuschlag benachrichtigt und passt seinen Stromverbrauch oder seine Stromproduktion anschließend an. Das Netz ist nun weniger belastet und kann wieder mehr Strom durchleiten, etwa Windstrom von der Nordseeküste zu den Verbrauchszentren im Land.
Einer der Nutzer von ENKO ist das Projekt Windgas Haurup in der Nähe von Flensburg. Das Gemeinschaftsunternehmen von Energie des Nordens, an dem viele lokale Akteure aus dem Bereich erneuerbare Energien und der Ökoenergieanbieter Greenpeace Energy beteiligt sind, betreibt in Haurup einen Elektrolyseur. Dieser wandelt überschüssigen Windstrom in Wasserstoff für die Gaskunden von Greenpeace Energy um. Am Elektrolyseur ist eine Fernsteuereinheit („Next Box“) verbaut, über die das Leitsystem des Virtuellen Kraftwerks auf die Power-to-Gas-Anlage zugreift. Der Day-Ahead-Fahrplan des Elektrolyseurs, also der geplante Stromverbrauch für den nächsten Tag, wird an ENKO gemeldet, sodass klar ist, wie viel Flexibilität am folgenden Tag zur Verfügung stehen wird. Anders gesagt: Wie viel zusätzlichen Strom der Elektrolyseur mit kurzer Vorlaufzeit verbrauchen kann, um Netzengpässe durch starke Windeinspeisung aufzulösen. Über eine Netzampel ist für jeden Tag transparent ersichtlich, in welchen Netzgebieten es aufgrund der hohen Einspeisung von Windstrom zu Netzengpässen und damit voraussichtlich auch zur Abregelung von Erneuerbaren Energien kommen wird. Wenn ein Engpass vorliegt, dann greift die Plattform von ENKO ein und fordert die Lieferung von Flexibilität bei den teilnehmenden Akteuren ein. Das Leitsystem des Virtuellen Kraftwerks fährt die Elektrolyseanlage in Haurup hoch, um durch eine gesteigerte Wasserstoffproduktion überschüssigen Windstrom aus dem Netz zu nehmen.
Um den Ablauf zu prüfen, wurde am 19. November 2020 ein Feldtest der ENKO-Plattform durchgeführt. An diesem Tag herrschte aufgrund eines hohen Windaufkommens eine angespannte Netzsituation in Schleswig-Holstein:
Da der PEM-Elektrolyseur in Haurup mit einer Gesamtkapazität von 1 MW für diesen Tag seine verfügbare Flexibilität bei der ENKO-Plattform angemeldet hatte, wurde er über das Virtuelle Kraftwerk Next Pool hochgefahren – was nichts anderes bedeutet, als dass sein Stromverbrauch in kurzer Zeit erhöht wurde und somit auch die Produktion von Wasserstoff.
Den Ablauf des Testlaufs bewertet Tobias Romberg, zuständiger Projektleiter bei Next Kraftwerke: „Auf Basis der Betreibervorgaben für den Elektrolyseur haben wir am Vortag des Feldtests den Fahrplan des Elektrolyseurs erstellt und an die ENKO-Plattform übermittelt. Am Abend des Vortags führte der Verteilnetzbetreiber die Netzlastprognose für den Folgetag durch, um die zu erwartenden Engpässe zu ermitteln und bezuschlagte auf dieser Basis die eingegangenen Gebote, die bei der Behebung der zu erwartenden Engpässe als hilfreich eingeschätzt wurden. Am Tag des Feldtests setzte unser Virtuelles Kraftwerk den angepassten Fahrplan um und der Elektrolyseur in Haurup wurde genutzt, um einen lokalen Engpass im Netz zu beheben. Anschließend prüfte ENKO die Qualität der Erbringung, auch um Scheinflexibilität auszuschließen. Aus unserer Sicht war der Feldtest daher ein voller Erfolg und hat beispielsweise demonstriert, dass der Day-Ahead-Prozess bei der Ausschreibung kurzfristig genug ist und zugleich die erforderliche Planungssicherheit für den Betreiber, das Virtuelle Kraftwerk und den Verteilnetzbetreiber gewährleistet.“
Auch für Energie des Nordens und Greenpeace Energy ist der bestandene Test ein voller Erfolg. Die Akteure möchten den überschüssigen Windstrom einer sinnvollen und die Region stärkenden Nutzung zuführen, anstatt die Windkraftanlagen bei zu viel Wind abschalten zu müssen. „Wir legen bei der Produktion von Wasserstoff nicht nur großen Wert darauf, dass der Wasserstoff mit grünem Strom produziert wird“, sagt Dr. Erich Pick, Projektleiter von Greenpace Energy. „Wir wollen durch die Bereitstellung von grünem Wasserstoff die Energiewende auch in jenen Sektoren vorantreiben, wo die Treibhausgasemissionen nicht direkt durch den Einsatz von Ökostrom gesenkt werden können.“ Zugleich soll der Elektrolyseur möglichst energiewendedienlich betrieben werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn durch den Elektrolyseureinsatz eine Abschaltung von Windkraftanlagen vermieden werden kann oder wenn der Elektrolyseur dazu beiträgt, fluktuierende erneuerbare Energien besser in das Stromnetz und in den Energiemarkt zu integrieren. Energiewendedienlich ist auch die Abnahme von Strom aus einem Altwindpark, der ansonsten nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden könnte, so aber weiterhin Ökostrom produziert. Der dabei produzierte Wasserstoff wird mit dem Tarif proWindgas ebenfalls an Kunden von Greenpeace Energy vermarktet.
Festzuhalten bleibt: Die Lieferung von lokaler Flexibilität aus dezentralen Einheiten zur Auflösung von Netzengpässen funktioniert technisch und ist darüber hinaus sinnvoll und notwendig, um das Stromnetz kosteneffizient und unter Einbeziehung aller Flexibilitäten – eben auch von der Verbrauchsseite – zu stützen. Was nun geschehen muss, ist eine Skalierung auf hunderte oder tausende Teilnehmer an lokalen Plattformen zur Orchestrierung einer intelligenten Netzauslastung. Zudem sollte eine Bepreisung von lokaler Flexibilität eingeführt werden, denn im Rahmen von ENKO nehmen die Teilnehmer freiwillig teil und geben keine Gebote für die Lieferung ihrer Flexibilität ab. Und nicht zuletzt sollten erfolgreiche Pilotprojekte wie ENKO dazu führen, dass die Ausbildung von lokalen Plattformen für Netzflexibilität einheitlich geregelt wird – ansonsten droht ein Flickenteppich aus Individuallösungen. Das wäre nicht nur ineffizient, sondern auch ein Dämpfer bei der Anreizung verbraucherseitiger Flexibilität.
Weitere Informationen und Dienstleistungen