Die COVID-19-Pandemie hat die Welt im Griff – das Stromnetz bleibt dennoch stabil. Was sichert diese Stabilität und wie reagieren die Strommärkte in Deutschland und Europa?
Was in diesen Tagen und Wochen geschieht, ist ohne historisches Beispiel. Unsere gesamte Zivilisation tritt mit voller Wucht aufs Bremspedal. Prioritäten werden neu sortiert, im Leben, in der Wirtschaft, in der Politik. Die wichtigsten Dinge des täglichen Lebens bleiben aber weiterhin möglich – dank der Menschen, die oft wenig Anerkennung erfahren und noch öfter schlecht bezahlt sind. In den Krankenhäusern, den Pflegeheimen, an den Supermarktkassen, in der Logistikbranche – kurzum in allen systemrelevanten Berufen, in denen kein Homeoffice möglich ist und in denen sich Menschen dem Infektionsrisiko täglich stellen müssen. Was diese Leute leisten, ist enorm und verdient unsere Hochachtung.
Was den Betrieb unseres Virtuellen Kraftwerks angeht, so ist dieser von den aktuellen Ereignissen nicht gefährdet und läuft, abgesehen vom Homeoffice, ganz normal. Die vernetzten Anlagen erzeugen Strom, den wir auf dem Strommarkt und dem Regelenergiemarkt verkaufen können und melden ihre Daten zuverlässig an unser Leitsystem. So sorgen wir gemeinsamen mit den anderen hunderttausenden, großen und kleinen, erneuerbaren und nicht erneuerbaren, Stromerzeugungsanlagen und den Netzbetreibern in ganz Europa für Stabilität in der Stromversorgung.
Das moderne, dezentrale Stromnetz ist recht ähnlich wie das gegenüber Großstörungen sehr resiliente Internet aufgebaut. Dessen grundlegende Technologie, in den 1960er Jahren als Reaktion auf die im Kalten Krieg stark bedrohten, zentralistisch organisierten Rechnernetzwerke entworfen, bietet Auswege, wenn direkte Wege verschlossen sind. Insbesondere die Erneuerbaren Energien aus Sonne und Wind liefern, weitgehend unabhängig von menschlichen Eingriffen, zuverlässig Strom. Wie wichtig solche funktionierenden Strukturen sind, wie wichtig Redundanzen und Reserven für jedes denkbare System sind, wird uns in diesen Tagen überdeutlich.
Konzepte wie Dezentralisierung, Digitalisierung, automatischer Datenaustausch und die KRITIS-Verordnung zum Schutz kritischer Infrastruktur, deren Bestimmungen wir erfüllen, bewähren sich derzeit in unserem Alltag. Unsere Server und Workstations lassen sich im Homeoffice genauso bedienen, als ob wir unmittelbar neben dem Serverraum säßen – bis auf eine Rumpfmannschaft muss niemand derzeit in unserem Gebäude arbeiten. Videokonferenzen haben unsere täglichen Gesprächsrunden übernommen – wie in sehr vielen anderen Unternehmen auch.
Der Strommarkt organisiert sich nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage – letztere ist durch die zahlreichen Shutdowns in der globalen Industrieproduktion stark eingebrochen. Die deutschen Automobilwerke und viele andere Produktionsbetriebe haben ihre Produktion eingestellt oder auf ein Minimum heruntergefahren, im am stärksten von der Krise betroffenen Italien sind alle "nicht lebensnotwendige Betriebe" geschlossen. Industrie und Gewerbe verbrauchen normalerweise nahezu die Hälfte des in Deutschland erzeugten Stroms – entsprechend viel Strom steht nun sehr günstig zur Verfügung.
Wie unsere hauseigenen Stromhändler berichten, sind die Auswirkungen allerdings weniger aufgrund der gesunkenen Strompreise, sondern wegen der Lastverschiebungen im Tagesverlauf bemerkenswert. Normale Gewohnheiten der deutschen Stromverbraucher wie frühmorgens aufstehen, Licht machen, Duschen, die Kaffeemaschine einschalten und vieles mehr verschwinden durch die Ausgangsbeschränkungen oder verteilen sich auf den ganzen Tag. Die charakteristischen Peaks, also die Höchstverbrauchswerte, sind im derzeitigen Preisverlaufsprofil eines normalen Tages am Intradaymarkt kaum zu erkennen. Unsere Stromhändler müssen daher an eine neue Situation im Stromhandel anpassen, der sie weder während ihrer Ausbildung noch bisher im Arbeitsalltag begegnet sind.
Insgesamt sind im durch den von Next Kraftwerke vorwiegend betriebenen Kurzfristhandel die Folgen nicht so schwerwiegend wie für den Langfristhandel. Hier wirken sich die drastisch gesunkenen fossilen Rohstoffpreise heftig aus; der Steinkohlepreis brach um rund 25 Prozent ein, der Ölpreis um rund 30 Prozent. Langfristkontrakte, deren Konditionen auf langfristig prognostizierten Rohstoffpreisentwicklungen bestehen, sind durch diesen Preisverfall nicht zu halten. Der eingebrochene Ölpreis macht sich unmittelbar an der Zapfsäule bemerkbar; Preiseinbrüche vergleichbaren Ausmaßes, wenn auch weniger stark, ließen sich zuletzt während der globalen Finanzkrise 2008 beobachten – auch die Gaspreise werden zeitversetzt stark sinken.
Der enorme Rückgang des Stromverbrauchs zeigt auch deutliche Effekte auf dem Regelenergiemarkt. So stieg der Preis für negative Sekundär- und Minutenreserveleistung am vergangenen Wochenende stark an, da die Netzbetreiber durch den Einsatz von großen Mengen negativer Sekundärregelleistung (SRL) und Minutenreserveleistung (MRL) dem Stromnetz den überschüssigen Strom entziehen mussten.
Normale Leistungspreise für negative SRL und MRL liegen im einstelligen Eurobereich – am Samstag (21.03.2020) stiegen die Preise jedoch zunächst auf 20 Euro pro MW, am Sonntag dann auf rekordverdächtige 80 Euro pro MW an. Die Netzbetreiber deckten sich mit negativer Regelenergie für die erwarteten Stromverbrauchseinbrüche am Montag ein.
Auch in der Primärregelleistung (PRL), die keine negativen und positiven Produkte kennt, sondern kontinuierlich die Netzfrequenz ausgleicht, wurden sehr viel höhere Leistungspreise als üblich erzielt (Samstag 164 Euro/MW, Sonntag 260 Euro/MW). Auf dem Regelenergiemarkt kam es trotz der sprunghaft gestiegenen Nachfrage nach negativer Regelenergie zu keinen Turbulenzen, schließlich ist das System genau für diese Fälle gedacht. Die Zahlen wurden unserem Newsletter zur wöchentlichen Marktanalyse von Spotmarkt & Regelenergiemarkt entnommen, denen wir Ihnen auch zur Verfolgung der aktuellen Entwicklungen am Strommarkt empfehlen möchten.
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Was die gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Lage angeht, können wir nur eines ehrlich sagen: Wir haben keine Ahnung. Unser Virtuelles Kraftwerk könnte auf Basis der jetzigen Situation für eine theoretisch unbegrenzte Zeit weitermachen. Nach der ersten Woche haben sich die ersten Routinen eingeübt und die Mitarbeiter haben sich an die Situation gewöhnt. Wie in jedem anderen Unternehmen ist es jedoch auch für uns derzeit seltsam, die Kollegen nicht wenigstens einmal die Woche persönlich zu sehen.
Auf dem Strommarkt haben sich die Marktbeteiligten bereits auf die neue Situation eingestellt, hier läuft der Betrieb bereits seit Jahren nicht unbedingt anonym, aber doch digital und per Telefon ab. Auch der derzeitigen Situation der Überversorgung mit Strom kann durch negative Regelenergie und Abschaltungen von Stromerzeugern im Rahmen der Abschaltverordnung vergleichsweise leicht begegnet werden.
Wir selbst bleiben, wie alle anderen auch, zum Schutz vor weiterer Ansteckung, in unseren Wohnungen und verfolgen die Entwicklungen weiter, sowohl auf dem Strommarkt wie auch in der Coronakrise. Was uns beruhigt: Die Sonne scheint, der Wind weht kräftig und die Erneuerbaren Energien tragen auch in der Krise zur Systemstabilität bei. Von unserer Warte aus ist die Stromversorgung sichergestellt.
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